Im BlickfeldBritischer Vorwahlkampf

Was Labour nach dem Wahlsieg ändern würde

Keir Starmer und Rachel Reeves positionieren sich als Genossen der Bosse. Verstaatlichungen sind kein Thema mehr. In der City sind Jeremy Corbyns Nachfolger gefragte Gesprächspartner.

Was Labour nach dem Wahlsieg ändern würde

Projekt Hoffnung: Was Labour nach dem Wahlsieg ändern würde

Keir Starmer und Rachel Reeves positionieren sich als Genossen der Bosse. Verstaatlichungen sind kein Thema mehr. In der City sind Jeremy Corbyns Nachfolger gefragte Gesprächspartner.

Von Andreas Hippin, London

Für den Labour-Chef Keir Starmer und seine Finanzexpertin Rachel Reeves präsentiert sich eine fremde und seltsame Welt auf den Bildschirmen im Foyer der London Stock Exchange.

Der Labour-Führer Keir Starmer hat es nicht geschafft, am Freitag mit seiner Neujahrsansprache die Schlagzeilen zu dominieren. Dabei hatte er sich mit dem National Composites Centre im Bristol & Bath Science Park die richtige Kulisse für sein „Projekt Hoffnung“ ausgesucht. Dort wird unter anderem an den Flugzeugtragflächen der Zukunft gearbeitet. Schließlich setzt die größte britische Oppositionspartei auf Industriepolitik und staatliche Investitionen. Doch Premierminister Rishi Sunak verdrängte Starmer mit der Ankündigung, seine „Arbeitshypothese“ sei eine Wahl im zweiten Halbjahr, von den Titelseiten. Zuvor war man weithin von einem Wahltermin im Mai ausgegangen.

„Ob Sie das erste Mal daran denken, Labour zu wählen, schon immer Labour gewählt haben, oder keinerlei Absicht haben, Labour zu wählen: Meine Partei wird Ihnen dienen.“

Keir Starmer

Phrasen statt klare Ansagen

Klare Worte hatte Starmer nicht zu bieten. Sein Vorgänger Jeremy Corbyn machte klare Ansagen, was seine Wünsche nach Wiederverstaatlichung von Schlüsselindustrien angeht. Starmer erging sich dagegen in seiner „Neujahrsbotschaft der Hoffnung“ in Phrasen: „Veränderung zum Besseren“, „nationale Erneuerung“, „neue Geisteshaltung“. Labour sei keine Protestpartei mehr, sondern eine Partei, die den Menschen dienen wolle.

Keir Starmers erste große Rede des Jahres

Wie einst Tony Blair, wenn auch ohne dessen Charisma, versprach er, das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen, eine „saubere“ Politik und mehr Dezentralisierung. Bei ihren Auftritten in der City verkaufen sich Starmer und seine Finanzexpertin Rachel Reeves als Genossen der Bosse. Als Gesprächspartner sind sie dort mittlerweile gefragter als Regierungsmitglieder. Wie die selbst gesetzten Ziele erfüllt werden sollen, etwa das höchste Wirtschaftswachstum unter den G7-Staaten oder saubere Energie bis 2030, erklärte Starmer nicht.

Ambitionierte Projekte

Labour will unter anderem einen öffentlichen Versorger, GB Energy, ins Leben rufen, der „saubere“ Energie liefern soll. Zugleich sollen die Energierechnungen der privaten Haushalte sinken. Ein Staatsfonds (National Wealth Fund) soll mit privaten Investoren unter anderem in Gigafactories für E-Auto-Batterien, „saubere“ Stahlwerke, grünen Wasserstoff und Energiespeicherung investieren. Zudem sollen 19 Millionen Haushalte Unterstützung bei der energetischen Sanierung ihrer Häuser erhalten, um permanent weniger für Energie ausgeben zu müssen.

„Grüne“ Neuverschuldung

Wer das alles bezahlen soll? Reeves, die im Falle eines Wahlsieges Jeremy Hunt im Schatzamt ablösen würde, kündigte auf dem Parteitag 2021 an, als „erste grüne Schatzkanzlerin“ jährlich 28 Mrd. Pfund neue Schulden machen zu wollen, um in „grüne“ Jobs und Branchen zu investieren. Seitdem sind die Kosten für die Kreditaufnahme deutlich gestiegen. Die ehemalige Bank-of-England-Volkswirtin ruderte inzwischen etwas zurück. Man werde damit erst beginnen, wenn die öffentliche Neuverschuldung langsamer wachse als die Wirtschaft, hieß es zuletzt.

Tax the Rich

Von dem schuldenfinanzierten Subventionsprogramm verabschieden kann sich Reeves allerdings nicht, denn es wird von weiten Teilen der Partei unterstützt. Das führt zum Allheilmittel, wenn es um Löcher im Haushaltsplan geht: Bezahlen sollen die Reichen. Diejenigen, die es sich leisten können, sollen sich ihrer sozialen Verantwortung nicht länger entziehen.

Reiche Ausländer im Visier

Labour will den "Non-Dom“-Status abschaffen, der es vermögenden Ausländern wie Rishi Sunaks Ehefrau ermöglicht, nur auf das in Großbritannien erwirtschaftete Einkommen Steuern zu bezahlen, nicht aber auf die Erträge ihrer Vermögenswerte im Ausland, die dort verbleiben. Eine Abschaffung ließe nicht nur außer Acht, dass diese Einkommen bereits anderenorts versteuert werden. Die ins Visier genommene Gruppe ist auch außerordentlich mobil und dürfte in Jurisdiktionen umziehen, die ihnen freundlicher gesonnen sind. Tatsächlich haben zuletzt immer weniger Menschen diesen Status beantragt. Höhere Steuereinnahmen sind also kaum zu erwarten.

Besteuerung von Privatschulen

Das Vorhaben, Schulgebühren von privaten Bildungseinrichtungen mit dem vollen Mehrwertsteuersatz zu belegen, dürfte sich ebenfalls als Rohrkrepierer erweisen. Es trifft vor allem Familien aus dem Mittelstand, die ihrem Nachwuchs bessere Zukunftschancen mitgeben wollen. Auch viele linke Labour-Politiker schicken ihre Kinder lieber auf Privatschulen. Die durch Besteuerung erzielbaren Einnahmen reichen nicht, um allen eine bessere Bildung zu finanzieren.

Zerstrittene Partei

Ähnlich wie die regierenden Tories ist auch Labour zutiefst zerstritten. So wie es Boris Johnson nicht gelang, seinen Erdrutschsieg vom November 2019 zu nutzen, um dringend nötige Reformen durchzusetzen, könnte auch Starmer durch parteiinterne Grabenkämpfe gelähmt werden. Das äußerte sich zuletzt im Rücktritt von Jess Phillips, die sich bei den britischen Medien großer Beliebtheit erfreut.

Rebellion gegen Nahost-Politik

Die Politikerin, die im Schattenkabinett Starmers für die Themen häusliche Gewalt und Safeguarding verantwortlich zeichnete, war eine von 56 Abgeordneten der Partei, die im November im Unterhaus für einen Antrag der schottischen Nationalisten stimmten. Darin wurden ein „Ende der kollektiven Bestrafung des palästinensischen Volkes“ und ein Waffenstillstand im Gaza-Streifen gefordert. Die Parteiführung wollte dagegen Solidarität mit Israel demonstrieren. Bei Starmers Auftritt in Bristol fanden vor dem Technologiezentrum propalästinensische Proteste statt.

Koalition mit Liberaldemokraten denkbar

Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass der Krieg im Nahen Osten so ein Zerwürfnis hervorruft. Doch gibt es Labour-Abgeordnete, die ihr Mandat den Stimmen muslimischer Zuwanderer verdanken, die in den vergangenen Wochen immer wieder ein Ende der israelischen Militäraktion forderten. Bleiben sie am Wahltag zu Hause, könnte es doch noch knapp für Starmer werden. In Umfragen liegt er derzeit zwar weit vorn. Zurückliegende Wahlen und das EU-Referendum haben jedoch gezeigt, dass das nicht viel bedeuten muss. Sollte es Starmer nicht zur absoluten Mehrheit reichen, müsste mit den Liberaldemokraten koaliert werden. Schottlands Nationalisten erteilte er bereits eine Absage.

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