An den Falschen geraten
Notiert in London
An den Falschen geraten
Von Andreas Hippin
Mitten im Londoner Bahnhof St. Pancras steht ein Yamaha-Klavier. Elton John hat es 2016 nach einem Auftritt dagelassen. Nicht nur bekannte Namen wie Jeff Goldblum, Alicia Keys, John Legend und Tom Odell spielten bereits darauf. Tausende Menschen nutzten die Chance, in die Tasten zu hauen – manche mit mehr, manche mit weniger Geschick. „Genießt dieses Klavier. Es ist ein Geschenk“, lautete Elton Johns Botschaft. Nun steht es im Zentrum eines kleinen Zusammenpralls der Zivilisationen, zu dem es ohne Soziale Medien nie gekommen wäre.
"Dr. K" lässt sich nichts bieten
Brendan Kavanagh aka „Dr. K“ ist ein Pianist, der sich gerne dabei filmt, wenn er in St. Pancras spielt. Dabei tritt er gerne im schwarzen Kapuzenpulli mit Sonnenbrille auf. Sein Youtube-Kanal hat 2,3 Millionen Abonennten. Das liegt nicht nur daran, dass er ein begnadeter Musiker ist. Die Videos zeigen auch seine mitunter erstaunlichen Interaktionen mit dem Publikum. Zudem versucht er, Menschen mit Erklärvideos zu den ersten Schritten von dem Instrument zu begeistern. Kavanagh verfügt nicht nur über reichlich britischen Humor. Er lässt sich auch nichts bieten, etwa vom Bahnhof-Sicherheitspersonal, das ihn einmal verscheuchen wollte, weil er das Klavier verschob.
Und so geriet eine Gruppe von Mitarbeitern eines Fernsehkanals aus der Volksrepublik China genau an den Falschen, als sie versuchte, ihn unter Verweis auf ihr vermeintliches Recht am eigenen Bild zum Abbruch seines Live-Streamings zu bewegen. Zunächst war es nur eine höfliche Bitte. Doch nachdem Kavanagh ihr nicht Folge leisten wollte, eskalierte die Situation rasant. Zumal er deutlich machte, dass man sich in Großbritannien befinde, einem freien Land, und nicht im „kommunistischen China“. Tatsächlich hat in England niemand das Recht, einen anderen an einem öffentlichen Ort vom Filmen oder Fotografieren abzuhalten. Das geht nur an Orten, an denen man berechtigterweise annehmen darf, ungestört zu sein.
"Educate yourself"
Weil Kavanagh sich nicht einschüchtern ließ und einfach immer weiterfilmte, ist ein Lehrstück darüber entstanden, wie Angehörige der chinesischen Elite im Ausland vorgehen, um ihre Interessen durchzusetzen. So wurde ihm von seinem Gegenüber etwa vorgeworfen, „rassistisch“ und „diskriminierend“ zu sein, weil er die chinesische Flagge immer wieder als „kommunistische Flagge“ bezeichnete. Die Fähnchenträger benutzten sogar den bei westlichen linken Bewegungen beliebten Slogan „Educate yourself“. Das Video liefert den Beweis dafür, dass sich Kavanagh keinesfalls rassistisch oder diskriminierend verhielt. Das gilt auch für den Versuch der chinesischen Gruppe, den Eindruck zu erwecken, er habe eine der Frauen angefasst. Denn als er eines ihrer Winkelemente berührte, fing einer der Männer an zu schreien. „Warum hast Du sie angefasst? Hör auf damit, sie anzufassen! Fass sie nicht an!“ Er unterlegte das noch mit der Feststellung, dass Kavanagh nicht im gleichen Alter sei wie das angebliche Opfer. Auch hier kann sich der Pianist nur dafür beglückwünschen, weitergefilmt zu haben.
Auftritt nur noch auf Antrag
Den unrühmlichsten Auftritt hatte die Polizei. Einer der Beamten verteidigte Kavanaghs Recht, zu filmen. Eine Beamtin verlangte dagegen, dass er damit aufhören solle. Auch in diesem Fall entsprach er der Bitte nicht. Und so erfahren die Zuschauer, dass im Zweifelsfall keiner weiß, was zu tun ist. Am Ende stand das Video im Netz. Aber das Klavier war vorübergehend abgesperrt. Der Bahnhof begründete das mit Wartungsarbeiten. Nun ist es wieder zugänglich, steht allerdings woanders. Auf der Website von St. Pancras heißt es, wer dort zu kommerziellen Zwecken auftreten, fotografieren oder filmen wolle, müsse einen Antrag stellen.
Unterdessen tauchte auf Douyin, dem chinesischen Original von Tiktok, ein Video auf, in dem eine der Beteiligten sagt, man müsse die Flagge schützen, auch kleine Versionen müssten würdevoll behandelt und dürften nicht beschädigt werden. Der offizielle Name der Flagge ist übrigens "die rote Fahne". Es wird nicht das letzte Wort gewesen sein.