Notiert inLondon

Keine Angst vor Sozialen Medien

Rund die Hälfte der britischen Teenager halten sich für süchtig nach Sozialen Medien. Das bedeutet nicht, dass sie es auch sind. Trotzdem gibt es große Vorbehalte gegen "Big Tech".

Keine Angst vor Sozialen Medien

Notiert in London

Keine Angst vor Technologie

Von Andreas Hippin

Fast die Hälfte der britischen Teenager hat das Gefühl, süchtig nach den sogenannten Sozialen Medien zu sein. Zu diesem Ergebnis kam ein Team um Dr. Amy Orben von der Universität Cambridge, das Daten der „Millennium Cohort“-Studie auswertet, wie der „Guardian“ berichtet. Dabei handelt es sich um eine lang angelegte Erhebung des Centre for Longitudinal Studies der University of London. Sie begleitet rund 19.000 Menschen durchs Leben, die zwischen 2000 und 2002 im Vereinigten Königreich geboren wurden. Im Alter von 16 bis 18 Jahren wurden sie erstmals zur Nutzung solcher Online-Selbstentblößungsplattformen befragt.

Mädchen fühlen sich öfter süchtig

Von den rund 7.000 Personen, die sich dazu äußerten, stimmten 48% dem Statement „Ich denke, dass ich süchtig nach sozialen Medien bin“ zu. Unter den Mädchen waren es 57%, unter den Jungen 37%. „Wir sagen nicht, dass die Leute, die sich süchtig fühlen, süchtig sind“, wird die Studentin Georgia Turner zitiert, die bei der Datenauswertung federführend war.

Gegenwind für „Big Tech“

Warum wird die Story also auch in anderen Medien wie der „Times“ aufgegriffen? Schließlich sind die Antworten der Jugendlichen bereits mehrere Jahre alt, wenn sie im Alter von 16 bis 18 befragt wurden. Es mag am Zeitgeist liegen. In Großbritannien trat im Oktober vergangenen Jahres ein Online-Sicherheitsgesetz (Online Safety Act) in Kraft, das Internetplattformen mehr Rücksicht auf die Sicherheit von Kindern abverlangt. Vor zwei Jahren war ein Londoner Gerichtsmediziner zu dem Schluss gekommen, dass Soziale Medien beim Tod einer 14-Jährigen eine Rolle spielten. Molly Russell aus Harrow hatte sich das Leben genommen, nachdem sie große Mengen von Content zu Angstzuständen, Depressionen und Selbstmord konsumiert hatte. Ihre Eltern unternahmen große Anstrengungen, die aus ihrer Sicht dafür verantwortlichen Firmen zur Rechenschaft zu ziehen. In der EU soll der Digital Services Act die Branche zu mehr Verbraucherschutz verpflichten. Auch in den Vereinigten Staaten bläst „Big Tech“ der Wind ins Gesicht.

Ausgefeilte Strategien

Neue Technologien wurden auch in der Vergangenheit meist als Bedrohung wahrgenommen. Doch Algorithmen und Smartphones unterscheiden sich in der Wahrnehmung ihrer Kritiker von Videospielen und anderen Angstmachern der Vergangenheit. Denn sie verwenden ausgefeilte Strategien, um die Nutzer dazu zu bewegen, mehr Zeit damit zu verbringen, Dinge vom Bildschirm zu wischen, Inhalte zu teilen und aufzuzeichnen.

Nichtnutzer am unglücklichsten

Studien belegen, dass heutzutage mehr Teenager unter Depressionen leiden als in früheren Jahren. Es würden sich auch weniger als glücklich mit ihrem Leben bezeichnen. Zugleich hat ihre Nutzung Sozialer Medien zugenommen. Aber eine Korrelation stellt noch keinen Kausalzusammenhang dar. Die Datenjournalistin Alexandra Samuel kam 2017 zu dem Schluss, dass sich Zwölftklässler, die Soziale Medien nach eigenen Angaben in moderatem Umfang nutzten, am seltensten als unglücklich beschrieben. Diejenigen, die wirklich süchtig nach ihren Smartphones waren, waren weniger glücklich. Am unglücklichsten waren aber die Jugendlichen, die Soziale Medien gar nicht nutzten.

Ihr Forschungsergebnis ist keine große Überraschung: Wer häufiger Soziale Medien nutzt, tut dies meist, um sich mit Freunden auszutauschen, Menschen also, an denen einem etwas liegt. Das könnte ihrem seelischen Wohlbefinden zugutekommen.

Größere Offenheit

Und noch etwas spricht dagegen, in das allgemeine Social-Media-Bashing mit einzustimmen: Psychischen Erkrankungen haftet in Großbritannien in der öffentlichen Wahrnehmung kein großes Stigma mehr an. Dafür haben nicht zuletzt König Charles‘ Söhne Harry und William gesorgt. Die traditionelle britische Devise „stiff upper lip“ ist inzwischen gänzlich out. Jüngere Menschen sind heute viel eher bereit, Meinungsforschern über Depressionen und andere Diagnosen Auskunft zu geben, als in der Vergangenheit. Das lässt hoffen, dass auch in diesem Fall die Folgen neuer Technologien nicht so verheerend sind wie zunächst befürchtet.

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