Im Kriechgang
Finanzplatz London
Im Kriechgang
Ein Gefühl der Resignation liegt wie Mehltau auf der City. Nötig wäre mehr Mut zur Deregulierung der Finanzbranche.
Von Andreas Hippin
Der britische Schatzkanzler Jeremy Hunt wird nicht müde zu betonen, dass er keinen neuen Big Bang anstrebt, der dem Finanzplatz London neues Leben einhauchen könnte. Auch seine neuesten Reförmchen, die er am Montag beim traditionellen Dinner im Mansion House, der Residenz des Lord Mayor of London, vorstellt, sind nicht mehr als Tischfeuerwerk. Mehr würde man von ihm auch nicht erwarten. Schließlich besteht seine Aufgabe darin, der Öffentlichkeit zu verkaufen, was in den Gängen von Schatzamt und Bank of England erdacht wurde. Hunt ist kein Finanzexperte. Sein Amtsantritt im Herbst vergangenen Jahres war das Ende des Traums von Singapore-on-Thames und anderen Illusionen, die manche in der City bewogen haben, beim Brexit-Referendum 2016 für den EU-Austritt zu stimmen.
Nachdem die vermeintlich Vernünftigen in der Regierungspartei zuerst Hunts Vorgänger Kwasi Kwarteng und dann die glücklose Premierministerin Liz Truss aus dem Amt drängten, gingen die Renditen britischer Staatsanleihen zwar vorübergehend zurück. Doch sind sie längst wieder auf dem Niveau, auf das sie nach der Vorlage von Kwartengs nicht gegenfinanziertem Haushaltsentwurf gestiegen waren. Der Unterschied ist, dass die hohe Inflation nun in weiten Kreisen ebenso als unabänderlich hingenommen wird wie das niedrige Wirtschaftswachstum. Ein Gefühl der Resignation liegt wie Mehltau auf der City. Initial Public Offerings genießen Seltenheitswert. Die türkische WE Soda brachte es auf den Punkt, als sie ihren Börsengang in London absagte: Die extreme Vorsicht der Anleger dort macht es unmöglich, eine attraktive Bewertung zu erzielen. Den Chipdesigner Arm Holdings zieht es deshalb nach New York, wo man mehr von Informationstechnologie versteht und Wachstumswerte zu schätzen weiß. Der britische Zahlungsabwickler CAB Payments wagte trotz der gedrückten Stimmung den Sprung aufs Parkett. Die Aktie fiel am ersten Handelstag deutlich unter den Ausgabepreis. All das hat Zweifel daran geweckt, dass der Markt noch so tief ist, wie er einmal war.
Für die London Stock Exchange Group ist das Primärmarktgeschäft zwar kein großer Umsatzbringer. Trotzdem wird man sich freuen, wenn das Listingregime entschlackt wird. Denn die Anforderungen an Börsenkandidaten sind in der britischen Metropole strenger als auf dem Kontinent. Doch es geht nur im Kriechgang voran, obwohl mutige Schritte zur Deregulierung der Finanzbranche nötig wären. Der bürokratische Apparat, der sich in den vergangenen Jahren darin gefiel, europäische Vorschriften durch besonders strenge Übertragung in britische Regelwerke zu vergolden, stellt sich Reformen entgegen. Wenn auch in Brüssel Änderungen anstehen, etwa beim Zurückdrehen des „Unbundling“, der von Mifid II verordneten getrennten Bezahlung von Investmentanalysen und Handelsaufträgen, tut man sich in Whitehall leichter. Auch hartgesottene Brexit-Befürworterinnen wie Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch haben sich am Widerstand und an der Trägheit der Verwaltung die Zähne ausgebissen. Die Liste der von der EU übernommenen Gesetze, die bis Jahresende gestrichen werden sollen, wird immer kürzer. Hunt fand es am Ende leichter, die Anbieter von beitragsorientierten Altersvorsorgeplänen dazu zu bewegen, 5% der ihnen anvertrauten Gelder in Private Equity und Firmen im Anfangsstadium zu investieren, als der Prudential Regulation Authority bei der Reform von Solvency II Dampf zu machen. Aviva, Legal & General, Phoenix und Scottish Widows sind dazu bereit. Start-ups könnten davon profitieren. Ursprünglich hatte man gehofft, Mittel für dringend nötige Infrastrukturinvestitionen freisetzen zu können. Die bei der Bank of England angesiedelte Aufsicht zeigte sich jedoch beharrlich.
Was hilft ein perfekt regulierter Markt, wenn keiner mehr dort handeln will? Der regulatorische Overkill lähmt nicht nur das Geschäft am Finanzplatz London. Er sorgt auch dafür, dass sich Marktteilnehmer nach nicht reguliertem Geschäft umsehen, dem freiwilligen Heißlufthandel etwa, bei dem CO2-Zertifikate gehandelt werden, die zwar keine Verschmutzungsrechte verbriefen, aber Unternehmen ein gutes Gewissen verschaffen können. Mit einer Abwanderung in unregulierte Märkte wäre keinem gedient. Mehr Common Sense käme dagegen allen zugute.