Im Labyrinth der Milliarden
Auf eine schwindelerregende Neuverschuldung steuert der Bund in diesem Jahr zu. 240 Mrd. Euro werden es sein, wenn das Kabinett an diesem Mittwoch und später der Bundestag den Nachtragshaushalt über 60 Mrd. Euro von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) gebilligt haben werden. Weitere 82 Mrd. Euro sollen laut Eckwerten für den Bundesetat 2022 hinzukommen. Diese Verschuldung ist im dritten Jahr der Corona-Pandemie noch fast doppelt so hoch wie das, was der Bund in der Spitze nach der Finanzkrise benötigte. Seit Ausbruch der Coronakrise 2020 wird der Bund in nur drei Jahren neue Schulden von 453 Mrd. Euro angehäuft und seinen Schuldenstand um fast zwei Fünftel erhöht haben. So weit die Bestandsaufnahme.
Sechs glückliche Finanzjahre mit Überschüssen, in denen der Bund sogar finanziell unbeschadet durch die Flüchtlingskrise steuerte, gingen der Krise voraus. Die gute Konjunktur füllte die Kassen von Staat und Sozialversicherungen. Steuersenkungen, die einen Teil der zusätzlichen Einnahmen an Bürger und Wirtschaft zurückgegeben hätten, blieben aus. Selbst der temporär eingeführte Solidaritätszuschlag ist 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch weitgehend existent, das Aufkommen nur halbiert. Die Vereinbarung, mit Überschüssen Schulden zu tilgen, setzte die schwarz-rote Regierung in der Flüchtlingskrise aus und bunkerte den Überfluss in der sogenannten Flüchtlingsrücklage.
Damit gelang die Haushaltskonsolidierung, ohne dass die schwarz-rote Regierung die Zügel straffen musste. Nun droht im Labyrinth der großen Zahlen den Haushältern die Disziplin aus anderem Grund abhandenzukommen. Der Wunsch nach schneller staatlicher Hilfe trübt den Blick in der Regierungskoalition: Viel hilft nicht automatisch viel. Das Geld muss auch effizient eingesetzt werden. Größter Posten im Nachtragshaushalt sind Unternehmenshilfen, die lang brauchen, bis sie am Ziel ankommen. Das komplexe Antragsverfahren lässt selbst Steuerberater verzweifeln, ohne zwangsläufig für Gerechtigkeit zu sorgen. Aber auch leichtfertige Versprechen kosten viel Geld, wie das von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), die ältere Bevölkerung mit einem lächerlich kleinen Kontingent von Gratismasken zu versorgen. Bürokratie und Aufwand für eine missbrauchsfreie Verteilung standen in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Jeder Drogeriemarkt führt mittlerweile preisgünstige Masken. Die Marktwirtschaft ist da ganz schnell. Auch milliardenschwere Posten wie die Entschädigung der Energieversorger für den staatlich verordneten Kernkraftausstieg schrumpfen zu Peanuts zwischen den großen Zahlen. In anderen Zeiten hätten sie Zeugnis über politische Kurzsichtigkeit abgelegt.
Die schwarz-rote Regierung redet die Zahlen mit einer neuen Relativitätstheorie schön. Deutschland kann sich die Krisenkosten leisten, lautet die Botschaft. Relativ zu anderen Ländern sei der Schuldenstand noch niedrig, relativ zur Finanzkrise nicht ganz so hoch. In der Tat wird der damalige Wert von mehr als 80% des Bruttoinlandsprodukts nicht erreicht. Die Maastricht-Grenze von maximal 60% wird aber dennoch klar gerissen. In den nächsten Jahren helfen nur Reserven, um die Schuldenbremse wieder einzuhalten. Verstummt ist der Aufschrei aus der Union zur Schuldenbremse. Nach den Eckwerten des Etats 2022 und der mittelfristigen Finanzplanung bis 2025 verschiebt Scholz die Rückkehr in den Mechanismus der Disziplin um ein Jahr auf 2023. Auch danach gelingt es nur, in diesem Regime zu bleiben, wenn die Flüchtlingsrücklage von mittlerweile 48 Mrd. Euro schrittweise aufgelöst wird. Zusätzlich muss 2024 und 2025 noch ein zweistelliger Milliardenbetrag gespart werden.
Den Etatentwurf 2022 wird die neue Regierung nach der Bundestagswahl im Herbst ändern und eigene Schwerpunkte setzen. Der Spielraum dafür wird zunehmend enger. Denn die Schuldenbremse verlangt von 2026 an, die Schulden aus der Notfallregelung der Coronakrise zu tilgen: 18 Mrd. Euro im Jahr. Hinzu kommen höhere Zinsausausgaben des Bundes, die zuletzt auf einen Tiefstand gefallen waren. Die in der Coronazeit eingebrochenen Steuereinnahmen werden sich 2024 wieder auf das Vorkrisenniveau erholt haben. Das Ausgabenniveau bleibt, selbst wenn die Krise überwunden ist, weit über dem von 2019. Der einfachste Ausweg scheint, die Schuldenbremse zu lockern. Das Konzept wäre damit gescheitert, noch bevor sie sich in einer Notlage bewähren konnte. Es wäre politisch der bequemste und für die Etatdisziplin der gefährlichste Weg.