LEITARTIKEL

Ins Desaster geführt

Wie konnte das passieren? Der Abgasskandal wirft viele Fragen auf - auch nach dem Führungsstil von VW. "Nur durch eine vorbildliche Führung und gute Zusammenarbeit zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern kann der Konzern seine Ziele erreichen",...

Ins Desaster geführt

Wie konnte das passieren? Der Abgasskandal wirft viele Fragen auf – auch nach dem Führungsstil von VW. “Nur durch eine vorbildliche Führung und gute Zusammenarbeit zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern kann der Konzern seine Ziele erreichen”, lautet einer der Grundsätze des Unternehmens. Schöne Worte für Hochglanzbroschüren. Seit drei Wochen klingen sie hohl. Entlarvt Dieselgate den Führungsstil im VW-Konzern als Katalysator für kriminelle Auswüchse?Gewiss, Leistungsdruck treibt eine Marktwirtschaft voran. Er darf aber nicht erdrücken. Die Devise “Geht nicht, gibt’s nicht” hemmt die Kreativität, führt in die Enge und lässt manchem als Ausweg nur Verstöße gegen Regeln und Gesetze. Diese Tendenz verschärft sich, wenn Arbeitserfolge mit finanziellen Anreizen wie hohen Boni verbunden sind.Damit Leistungsdruck auf Mitarbeiter und ein Unternehmen positiv wirkt, ist ein offener, respekt- und vertrauensvoller Umgang nötig. Jeder muss die Chance bekommen, Kritik zu äußern – zwischen und auf allen Ebenen der Hierarchie. Und es muss auch mal etwas schiefgehen dürfen. Dann ist der Rückhalt vom Vorgesetzten besonders wichtig. In einem solchen Arbeitsklima finden die Beschäftigten eher den Mut, Probleme und Fehler anzusprechen, und zwar nicht erst, wenn es zu spät ist.Stellt sich ein Zeitplan oder ein Budgetrahmen als zu ehrgeizig heraus, müssen Führungskräfte Ziele überdenken und eventuell ändern. Klar, in der Theorie klingt das einfacher als es ist: Kunden sind ungeduldig, Medien kritisch, Aktionäre verlangen steigende Renditen. Aber der Fall Volkswagen zeigt, welches Desaster droht, wenn Lösungen mit allen Mitteln angestrebt werden. Offenbar war in dem Konzern die Furcht, zu scheitern und vom Vorgesetzten abgekanzelt zu werden, viel stärker als das Unrechtsbewusstsein.Das lässt auf Mängel in der Organisationsstruktur schließen. Compliance ist mehr als ein Schlagwort in den Leitsätzen. Es reicht nicht, das Einhalten von Regeln und Gesetzen als Selbstverständlichkeit darzustellen und zu fordern. Und es braucht mehr, als eine Compliance-Abteilung aufzubauen und Führungskräfte sowie Mitarbeiter zu schulen. An erster Stelle muss der Unternehmenschef den Beschäftigten vermitteln, dass ein Verstoß gegen das Recht viel schwerer wiegt, als Ziele zu verfehlen. Für Siemens war es ein langer und teurer Weg, bis sich nach Aufbrechen des Korruptionsskandals dieses Denken und Handeln durchgesetzt hat. Anscheinend haben die Siemensianer nun verinnerlicht, dass nur saubere Geschäfte gute sind und dass es honoriert wird, auf dubiose Aufträge zu verzichten.Die Spitzenmanager geben die Linie vor und sind Vorbild. Meistens lastet auf ihnen der größte Druck. Diese Last weiterzugeben, ist die einfachste Methode – aber auch die schlechteste. Oft setzt sich solches Verhalten in der Hierarchie kaskadenartig bis ganz unten fort. Dann herrschen Missmut und Angst im ganzen Unternehmen, jeder verfolgt zuerst eigenen Ziele.Auf Dauer erfolgreicher sind in der Regel Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter vom Weg und Ziel überzeugen. Ihnen gelingt es viel leichter, motivierte Beschäftigte um sich zu scharen. Eine natürliche Autorität lässt sich meistens allein mit Fachwissen und einem offenen, verbindlichen Umgang gewinnen. Wertschätzung für die Mitarbeiter heißt keinesfalls, auf Durchsetzungskraft und Tadel zu verzichten. Aber der Ton macht die Musik, und erfolgreiche Arbeit verdient auch mal ein Lob.Martin Winterkorn zelebrierte es wie Ferdinand Piëch bisweilen, als knallharter Konzernchef von VW aufzutreten. Bestes Beispiel ist sein Besuch am Stand von Hyundai auf der IAA 2011. “Da scheppert nix”, herrschte Winterkorn seinen Chefdesigner an, den er wie einen Stiefelknecht zu sich gerufen hatte. Ein vertrauensvolles Verhältnis mit fruchtbaren Diskussionen entsteht so kaum. Wer wie ein Diktator Anweisungen erteilt, verschenkt Motivation, Wissen und Können der Mitarbeiter. Das mindert die Leistung einer ganzen Volkswirtschaft.Ausgerechnet der Perfektionist Winterkorn versagte in der Mitarbeiterführung. Er macht es sich deshalb zu einfach, wenn er wie am Tag vor seinem Rücktritt die Schuld auf die “schlimmen Fehler einiger weniger” schiebt. Freilich, ein Führungsstil, der erdrückt und unterdrückt, ist nicht strafbar, aber er kann verheerende Folgen haben. Der VW-Skandal zeigt es auf fatale Weise.——–Von Joachim HerrIm VW-Konzern war die Angst der Mitarbeiter, an Aufgaben zu scheitern, größer als das Unrechtsbewusstsein. Das liegt am Führungsstil.——-