Ist die duale Ausbildung am Ende?
Ist die duale Ausbildung am Ende?
Sie war der Stolz von Mittelstand und Handwerk: die duale Ausbildung. Doch der deutsche Ausbildungsmarkt ist in einer Schieflage. Die Betriebe finden nicht genug Lehrlinge. Besserung ist nicht in Sicht.
Von Anna Steiner, Frankfurt
Es sind alarmierende Zahlen, die jüngst vom deutschen Arbeitsmarkt, genauer gesagt vom Ausbildungsmarkt, kamen: Jedes zweite ausbildende Unternehmen kann nicht jede ausgeschriebene Lehrstelle besetzen. Manche Betriebe erhalten keine einzige Bewerbung – und wenn, so sind die Bewerber oft nicht geeignet. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) meldete noch Mitte August, also bereits nach Beginn des eigentlichen Ausbildungsjahres, 200.000 unbesetzte Ausbildungsplätze. 80.000 Interessierte waren zu diesem Zeitpunkt noch auf der Suche. Doch das heißt am Ende nicht, dass Unternehmen und Bewerber zusammenfinden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Für den Fachkräftemangel in Deutschland verheißt das nichts Gutes. Nicht umsonst gilt die duale Ausbildung als Motor der Fachkräftesicherung – und dieser ist gehörig ins Stottern geraten.
Krisen behindern
Die duale Ausbildung gilt als Alleinstellungsmerkmal der deutschen Wirtschaft. In kaum einem anderen Land werden Theorie und Praxis so eng miteinander verwoben, um die bestmögliche Qualifizierung für den betrieblichen Nachwuchs zu ermöglichen. „Sie wird nicht ohne Grund von Ländern weltweit hoch gelobt und teils als Vorbild genutzt“, weiß Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer. „Die nach wie vor geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa haben wir in Deutschland nicht zuletzt der dualen Ausbildung zu verdanken.“
Doch das System schwächelt. Der Azubimangel ist auf einem historischen Höchststand, wie aus der aktuellen Ausbildungsumfrage der DIHK hervorgeht. 47% der von der DIHK befragten Betriebe konnten nicht alle Ausbildungsplätze besetzen (siehe Grafik). 37% davon haben nicht eine einzige Bewerbung erhalten.
Dass die Lage derzeit so prekär ist, liegt natürlich auch an der Coronavirus-Pandemie. Zwei Jahre lang fanden aufgrund der weitreichenden Kontaktbeschränkungen quasi keine Ausbildungsmessen oder ähnlichen Veranstaltungen statt. Viele Angebote wie Schülerpraktika oder andere Schnuppermöglichkeiten, die das zwanglose Kennenlernen von Ausbildungsberufen ermöglichen sollen, waren ausgesetzt.
„Über die alternativ entwickelten digital gestützten Angebote hat man diese Informationsdefizite kaum ausgleichen können“, sagt Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, der Börsen-Zeitung. „Viele junge Menschen haben die Entscheidung über ihren weiteren Bildungsweg daraufhin aufgeschoben, und Ausbildungsplätze blieben unbesetzt.“ Auch DIHK-Experte Dercks beklagt: „Virtuelle Angebote waren kein vollwertiger Ersatz. Das hat zu großen Verunsicherungen der Jugendlichen bei ihrer Berufswahl geführt.“
Große Unsicherheit
Doch nicht nur der fehlende Kontakt zu Ausbildungsbetrieben, auch die schwächelnde Konjunktur erst infolge der Pandemie und schließlich nach Ausbruch des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat die Nachfrage nach dualen Lehrstellen spürbar geschwächt. „Die Unsicherheit hinsichtlich der Berufsaussichten in unterschiedlichen Branchen hat stark zugenommen“, konstatiert Bernd Fitzenberger, Arbeitsmarktexperte des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), auf Anfrage. Diese Unsicherheit wirke auch nach der akuten Coronakrise noch nach. Sie führe dazu, dass viele junge Menschen eher erst einen zweiten, allgemeinen Schulabschluss anstrebten, ein Überbrückungsjahr einlegten oder etwas ganz anderes machten, so der IAB-Experte.
Doch es sind keineswegs nur unvorhersehbare Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Ukraine-Krieg, die mit ihren Folgen auf dem Ausbildungsmarkt lasten. Viele Schwierigkeiten sind schon länger bekannt. Einerseits führt der demografische Wandel dazu, dass es generell weniger junge Menschen gibt, die auf den Arbeitsmarkt drängen. In den kommenden Jahren gehen jedoch die geburtenstarken Jahrgänge in Ruhestand und hinterlassen eine Lücke, die sich ohne qualifizierte Arbeitskräfte nicht schließen lässt. Dass die sogenannten Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, ist seit langem bekannt. Doch gegengesteuert wurde nur verhalten. Und so bleiben statt einer Lehre andere Optionen für viele junge Menschen attraktiver.
Strukturelle Probleme
So nimmt der Trend zur Akademisierung in Deutschland etwa seit vielen Jahren zu (siehe Grafik). 2021 gab es hierzulande mehr als doppelt so viele Studierende an Fachhochschulen und Universitäten (2,9 Millionen) als Auszubildende (1,3 Millionen). Das teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden jüngst mit. Mit Blick auf die Geschichte wird deutlich, wie krass sich die Präferenzen junger Menschen inzwischen verändert haben. 1950 kamen laut Destatis auf zehn Studierende noch 75,5 Auszubildende. 2021 waren es gerade noch 4,3 Auszubildende.
Grund ist hier nicht nur der demografische Wandel, auch der gesellschaftliche Wandel spielt eine wichtige Rolle. Die Gesellschaft gewichtet Akademisierung, Privatisierung und auf persönlicher Ebene auch Individualisierung immer höher. Salopp ausgedrückt: Wer etwas auf sich hält, geht studieren. Richtig ist, dass die Wahrscheinlichkeit, gut zu verdienen, mit einem Studium höher ist. Dazu gibt es immer wieder Berechnungen von Wirtschaftsinstituten. Doch auch ein Ausbildungsberuf bietet gute Verdienstchancen. Viele kennen sie nur nicht.
Schulen gefragt
Wirtschaftsverbände beklagen seit langem, dass die Berufsvorbereitung in den Schulen einen höheren Stellenwert bekommen muss. Vor kurzem forderte auch die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, in einem Interview, dass sowohl an Gymnasien, aber auch an Förderschulen die Berufsvorbereitung eine größere Rolle spielen müsse. Vor dem Hintergrund einer zuletzt gestiegenen – im europäischen Vergleich aber immer noch sehr niedrigen – Jugendarbeitslosigkeit auf 8% sagte sie: „Das dürfen wir uns als Gesellschaft nicht leisten, zumal viele Unternehmen händeringend junge Menschen suchen.“
Dercks schlägt in eine ähnliche Kerbe: „Eine erfolgreiche Ausbildung fängt in der Schule an“, sagte er der Börsen-Zeitung. „Dort muss eine zielgerichtete und ausgewogene Berufsorientierung dafür sorgen, dass Schulabgänger individuell ihre beste Berufswahl treffen können." Gerade Gymnasien dürften nicht einseitig in Richtung Studium orientieren, sondern müssten gleichermaßen über Ausbildungen informieren. Angesichts von über 300 Ausbildungsberufen ist dies keine leichte Aufgabe. Diese Fülle an Möglichkeiten ist es denn auch, die Fitzenberger mit als eines der Probleme am Ausbildungsmarkt ausmacht. Und: „Ein Nachteil der dualen Ausbildung ist die sehr spezifische Ausbildung in einem Beruf, die auch Teile umfassen kann, die für den Betrieb nicht relevant sind“, erklärt der IAB-Experte.
Ausbildungsbetriebe und Berufsschulen sollten die Inhalte der Lehre zudem an die aktuellen Gegebenheiten anpassen. „Eine breitere Ausbildung in der Schule oder in der Hochschule kann breitere Perspektiven eröffnen, was mit einer höheren Flexibilität und damit Anpassungsfähigkeit in wirtschaftlichen Transformationsprozessen einhergehen kann“, mahnt Fitzenberger an. So solle sichergestellt werden, „dass die Ausbildung zukunftsfähig und praxisrelevant bleibt – und nicht veraltetes Wissen vermittelt“, so Fitzenberger.
Um die Ausbildung wieder attraktiver zu machen für junge Menschen, müssen Politik und Betriebe aber laut DIHK-Experte Dercks an den Umständen schrauben. So profitieren Studierende etwa von Unterstützungsmöglichkeiten, die es für Azubis nicht gibt. „Aus meiner Sicht ist es außerdem dringlich, die Mobilität von potenziellen Azubis zu verbessern“, fordert Dercks. „Diese müssen gut und günstig dorthin kommen, wo es besonders viele Ausbildungschancen gibt. Ein vergünstigtes Deutschlandticket darf es daher nicht nur für Studierende, sondern muss es auch für Azubis geben." Auch an anderen Stellen sind Nachbesserungen denkbar. Ein Beispiel: Wohngeld kann in Deutschland etwa nur beantragen, wer das 18. Lebensjahr erreicht hat. Viele Auszubildende liegen aber unterhalb dieser Altersgrenze.
Vorsichtiger Optimismus
Die Ausbildungsbetriebe in Deutschland haben in den vergangenen Jahren bereits versucht, den negativen Trend zu stoppen. „So stellen sich die Unternehmen immer stärker auf junge Menschen mit Startschwierigkeiten ein“, weiß Dercks. Laut DIHK-Ausbildungsumfrage haben mittlerweile 80% der Betriebe spezifische Angebote für Jugendliche mit Defiziten. Zudem tragen viele Betriebe dem Mindset der Bewerber Rechnung: Flachere Hierarchien, Mentorenprogramme, modernisierte Einstellungsprozesse und auch finanzielle Anreize sollen die Attraktivität steigern. Auch die Bundesagentur für Arbeit bietet ihre Hilfe an. „Beispielsweise ist hier die Assistierte Ausbildung zu nennen“, sagt IAB-Experte Fitzenberger. Auch eine Einstiegsqualifizierung bietet Betrieben und Jugendlichen eine von der BA bezahlte Praktikumsmöglichkeit, um Leistungsrückstände aufzuholen und beiden Seiten das Kennenlernen zu ermöglichen. „Diese Maßnahmen sind jedoch noch zu wenig bekannt und werden nicht genug genutzt“, kritisiert Fitzenberger.
Von der Politik kommt den Wirtschaftsverbänden zufolge noch zu wenig. „Doch blieb es durch die Politik bislang vor allem bei politischen Lippenbekenntnissen, ohne dass die berufliche Bildung tatsächlich tatkräftig – auch finanziell – unterstützt wird. Das muss sich ändern: Insgesamt muss die Wertschätzung für die berufliche Bildung politisch und gesellschaftlich gesteigert werden“, fordert ZDH-Präsident Dittrich. Noch ist der Motor der dualen Ausbildung nicht ganz abgesoffen, aber es gibt alle Hände voll zu tun.
Auszubildende feilen im Rahmen der Grundausbildung bei MAN: Viele Unternehmen – besonders in Mittelstand und Handwerk – tun sich bei der Suche nach Auszubildenden immer schwerer.