Italiens Autoindustrie soll wieder auferstehen
Rom hofft auf Wiedergeburt der Autoindustrie
Der jahrzehntelange Niedergang von Fiat, Maserati, Alfa Romeo und Lancia soll gestoppt werden. Staatliche Milliardenhilfen sollen dabei helfen.
Von Gerhard Bläske, Mailand
Turin war einst neben Detroit und Wolfsburg eines der Zentren der weltweiten Automobilproduktion. Am Fiat-Hauptsitz produzierten in den besten Zeiten 70.000 Arbeiter bis zu 1,5 Millionen Autos pro Jahr. Im vergangenen Jahr haben etwa 11.000 Mitarbeiter noch rund 88.000 Fahrzeuge gefertigt.
Für einen Tag war es vor ein paar Wochen ein bisschen so wie früher. Stellantis-Chairman John Elkann präsentierte auf dem Dach des historischen Fiat-Firmengebäudes im Turiner Stadtteil Lingotto mit der berühmten Teststrecke den neuen elektrischen Fiat 600 und den neuen Topolino. Der riesige Gebäudekomplex, den der berühmte Architekt Renzo Piano in ein Kultur- und Messezentrum mit Konzerthalle, Multiplexkino, Fünf-Sterne-Hotel, Polytechnikum und Shoppingzentrum umgebaut hat, beeindruckt noch heute durch seine schiere Größe und die klaren architektonischen Strukturen.
Autos werden in der bei der Eröffnung 1923 fortschrittlichsten Autofabrik der Welt schon seit Jahrzehnten nicht mehr produziert. Auch das nahe gelegene Werk Mirafiori ist nur noch ein Schatten früherer Zeiten. In ganz Italien sind 2022 nur noch 473.000 Pkw gefertigt worden: Platz 7 in Europa. Rechnet man Nutzfahrzeuge dazu, waren es 770.000.
Auch der elektrische Fiat 600 und der neue Topolino werden anderswo gebaut: in Polen bzw. in Marokko. Dabei lieferte sich Italien bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein noch ein Wettrennen mit Deutschland um die Führungsposition in Europas Autoindustrie, und noch im Jahr 2000 wurden in Italien 1,7 Millionen Fahrzeuge produziert.
Unterlassene Investitionen
Der Niedergang war schleichend, aber kontinuierlich. Fiat investierte zu lange zu wenig in neue Modelle – nicht nur in die Marke Fiat selbst, sondern auch in einst elegante Nobelmarken wie Maserati, Alfa Romeo und Lancia, die nach und nach bei Fiat landeten. Der langjährige CEO Sergio Marchionne hat Fiat Anfang des 21. Jahrhunderts zwar vor der Pleite gerettet – den Niedergang der italienischen Marken stoppte er aber nicht. Nur dank der Übernahme von Jeep, Dodge und Ram und deren üppigen Gewinnen konnte sich Fiat 2021 in die Fusion mit PSA Peugeot Citroën Opel retten. Auch Marchionne unterließ Investitionen in neue Modelle und die Elektromobilität. Und neue Autowerke entstanden nicht in Italien, sondern in Nordafrika, Spanien und Portugal, in Osteuropa – und sogar in Deutschland (Tesla) –, auch weil Fiat das verhinderte und weil die Produktivität in Italiens Industrie seit mehr als 20 Jahren stagniert.
Der Branchenverband Anfia fürchtet infolge der zunehmenden Elektrifizierung den Verlust weiterer 70.000 der noch 268.000 Arbeitsplätze in der Branche. Rom versuchte deshalb, das Ende des Verbrennermotors 2035 in Europa hinauszuschieben – vergeblich. In Italien hat man das Gefühl, bei Stellantis benachteiligt zu werden.
Die Regierung in Rom drängt Stellantis-Chef Carlos Tavares, die Produktion im Land auf wieder deutlich über eine Million zu erhöhen. Bei einem Krisentreffen zwischen Tavares und Adolfo Urso, Minister für Unternehmen und das „Made in Italy“, wurde vereinbart, dass eine Arbeitsgruppe Vorschläge dazu erarbeiten soll. Bis Mitte August soll eine Übereinkunft erzielt werden.
Gegenleistungen von Rom gefordert
Tavares stellt in Aussicht, in Italien ein fünftes Modell auf der Basis der neuen Elektroplattform im Konzern für Mittelklasseautos zu produzieren – wohl einen Jeep. Doch konkrete Zusagen machte er ebenso wenig wie in Bezug auf die im süditalienischen Termoli geplante Batteriefabrik. Dafür sollen 100 Mill. Euro für einen neuen grünen Campus in Turin investiert werden. Bei der Vorstellung der Halbjahreszahlen des Stellantis-Konzerns, zu dem die italienischen Marken Fiat, Lancia, Alfa Romeo und Maserati, aber auch Peugeot, Citroën, Jeep, RAM, Dodge und Opel gehören, zeigte sich Tavares zuversichtlich, eine Einigung zu finden.
Er verlangt aber Gegenleistungen Roms in Form von Kaufanreizen für schadstoffarme Fahrzeuge. Laut Tavares wird Stellantis nur da produzieren, „wo wir wirtschaftlich wettbewerbsfähig sind. Die Kunden wollen Qualität und attraktive Preise. Wir können nicht von ihnen verlangen, dass sie 40% mehr für Elektroautos zahlen.“
Rom plant nun neue Hilfen für die Branche, die auf einen Umsatz von 92,7 Mrd. Euro kommt und noch 5,2% zum Bruttoinlandsprodukt des Landes beisteuert. Premier Mario Draghi hatte 2021 insgesamt 8,7 Mrd. Euro in Form von Kaufanreizen und Hilfen für Unternehmen bis 2030 lockergemacht. Meloni will nun nachschärfen. Die Rede ist von weiteren 6 Mrd. Euro, die etwa aus dem europäischen Aufbauprogramm stammen sollen.
Eine mögliche Rezession in Italien, wo die Konjunktur stark abkühlt, käme jetzt zur Unzeit. Denn es gab zuletzt gute Nachrichten. Der Bremsenhersteller Brembo vermeldete gerade einen zweistelligen Umsatz- und Gewinnzuwachs. Sehr gut lief es auch bei dem chinesisch dominierten Reifenproduzenten Pirelli, der Audi-Tochter Lamborghini sowie Ferrari, die Rekordzahlen vermeldeten. Es gibt erfolgreiche Unternehme wie Adler Pelzer, UFI Filters und vor allem Pirelli und Brembo: Doch viele Zulieferer sind zu stark auf klassische Antriebe spezialisiert. Es gibt zu wenige leistungsfähige Zulieferer, die die notwendigen Investitionen in die Transformation und Internationalisierung stemmen können.
Endlich aufwärts
Immerhin geht es nach Jahren des Niedergangs bei den italienischen Stellantis-Marken endlich aufwärts. Der Konzern investiert in neue Modelle von Lancia, Maserati und Alfa Romeo – auf gemeinsamen Plattformen des Konzerns. Von einer niedrigen Basis aus sind die Verkaufszahlen von Alfa Romeo dank des in Süditalien produzierten SUV Tonale im Halbjahr um 57% gewachsen. Ein weiterer SUV, der aber in Polen gebaut wird, soll kommen. Die Oberklassemarke Maserati, die seit 2021 wieder schwarze Zahlen schreibt, hat ihren operativen Gewinn dank des neuen SUV Grecale im ersten Halbjahr auf 121 Mill. Euro verdoppelt und den Absatz um 42% gesteigert. Stellantis hat Investitionen von 2,5 Mrd. Euro bei Maserati angekündigt. Bei Lancia schließlich sollen drei neue Modelle kommen. Auch der Fiat-Absatz hat um 10% zugelegt. Die Marke profitiert von der ungebrochenen Beliebtheit der vielen Modellvarianten des veralteten Fiat 500 und den nach wie vor relativ guten Absatzzahlen des Kleinstwagens Panda, der aber fast nur in Italien verkauft wird.
Von den einstigen Glanzzeiten sind die italienischen Stellantis-Marken weit entfernt. Marchionne peilte einst für Maserati jährlich 100.000 Einheiten und für Alfa Romeo 400.000 Einheiten an und wies ein Übernahmeangebot von VW-Chef Ferdinand Piëch für Alfa schnöde zurück. Beobachter in Italien sind sich einig, dass es Alfa bei VW besser ergangen wäre.
Es bleibt nun abzuwarten, wie es mit den Marken weitergeht und wie die Einigung von Stellantis mit Rom konkret aussehen wird. Dass in Turin auch mal wieder der Produktionsstart eines volumenstarken neuen Modells zu feiern ist, erscheint aber eher unwahrscheinlich.
Die Teststrecke auf dem Lingotto in Turin mit Autos vom Typ Fiat 500 und Fiat 600. Die Aufnahme stammt vom 12. Mai 1962.