Japans hartnäckiger Chauvinismus
Manche Nachrichten versteht man nur mit genug Kontextwissen. Zum Beispiel diese – auf den ersten Blick eher banale – Meldung aus Japan: „Frauen schneiden bei Aufnahmetests für den Studiengang Medizin besser ab als Männer“. Wer mit japanischer Politik vertraut ist, erkennt die Bedeutung sofort. Vor knapp vier Jahren kam nämlich heraus, dass eine bekannte Medizin-Universität vielen Bewerberinnen gezielt Punkte von ihrem Testergebnis abgezogen hatte, damit sie keinen Studienplatz bekamen. So stellte die Universität sicher, dass mehr Männer als Frauen ein Medizinstudium aufnehmen durften.
Dahinter steckte die konservative Überzeugung, dass viele Frauen nach dem Studium nicht lange Ärztin bleiben, sondern bald Hausfrau und Mutter werden würden. Die Universität bevorzugte jedoch (männliche) Absolventen, die lebenslang berufstätig bleiben und den Ruf ihrer Ausbildungsstätte mehren würden. Nach diesem Skandal deckte eine staatliche Untersuchung auf, dass viele andere medizinische Hochschulen Frauen auf die gleiche Weise benachteiligt hatten.
Nun zeigen amtliche Zahlen, dass Frauen von ihrer Leistung her mindestens die Hälfte der Studienplätze zusteht. Im Schnitt bestanden 13,6% der Bewerberinnen die Aufnahmeprüfungen von 81 Medizin-Universitäten, bei männlichen Bewerbern lag diese Quote bei 13,5%. In den acht Jahren seit Beginn der Aufzeichnungen hatte die Männerquote dagegen teilweise um mehr als zwei Prozentpunkte über der Frauenquote gelegen, offenbar als Folge der verfälschten Tests.
Inzwischen haben fast zwei Dutzend Frauen eine der Universitäten auf eine Entschädigung für erlittene „seelische Qualen“ wegen der vergeblichen Bewerbung verklagt. Zugleich verlangten sie eine Offenlegung ihrer Testergebnisse. Unter den Klägerinnen sind eine Ärztin und Studentinnen, die inzwischen an anderen Medizin-Unis studieren. Einige Klägerinnen ergriffen andere Berufe.
Japanische Frauen sind hochgebildet. Die in Japan üblichen langen Arbeitszeiten führen aber dazu, dass viele aus dem Job aussteigen, wenn sie eine Familie gründen. In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens sind Frauen daher unterrepräsentiert. Die Soziologin Chizuko Ueno nennt diesen Mangel eine „menschliche Katastrophe“. Frauen verdienen 27,5% weniger als Männer; mit knapp 57% arbeiten doppelt so viele Frauen auf Zeit oder in Teilzeit; nur 10% der Abgeordneten im Unterhaus sind weiblich.
Der langjährige Premier Shinzo Abe versprach 2013 eine Gesellschaft, in der Frauen „leuchten“ können. Er verlängerte den Mutterschutz, ließ mehr Kindergärten und Tagesstätten bauen und schaffte die Gebühren dafür ab. Seine Rhetorik drehte sich um die „Ermächtigung“ der Frauen. Aber der notwendige gesellschaftliche Wandel interessierte ihn nicht. Die Frauenquote für Manager blieb freiwillig, bald senkte er die Zielvorgabe von 30% auf 10%. Abe ging es immer nur um die stärkere Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben, um die Zahl der Beschäftigten hochzuhalten. Die Erziehung der Kinder sollte weiter Frauensache bleiben.
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Als die japanische Nationalmannschaft der Frauen die Fußballweltmeisterschaft 2011 gewann, wurde der Spitzname „Nadeshiko“ (Prachtnelken) für das Team auch in Deutschland bekannt. Die Ironie des Namens erschloss sich ausländischen Sportreportern jedoch nicht: Denn das Ideal dieser weiblichen „Blumen“ in Japan sieht so aus: Helle Haut, schwarze Haare, anmutig, fein geschminkt, willensstark, zurückhaltend, dezent verführerisch, opferbereit und dreifach gehorsam – als Tochter dem Vater, als Ehefrau dem Ehemann und als Mutter dem Sohn gegenüber. Wer in diesen Eigenschaften die Wesenszüge der Hauptfiguren Cio-Cio-san aus der Oper „Madama Butterfly“ von Giacomo Puccini und der Sayuri aus dem Roman „Die Geisha“ von Arthur Golden wiedererkennt, begreift sofort, dass die klassische Nadeshiko genau unserem westlichen Bild von „der Japanerin“ entspricht. Anders gesagt: Auch viele Westler sehen die Japanerin mehr als Hausherrin denn als Karrierefrau – und unterscheiden sich damit wenig von den chauvinistischen Medizin-Universitäten.