Keine Angst vor der Lohn-Preis-Spirale
Keine Angst vor
der Lohn-Preis-Spirale
Die Inflation ist in Deutschland nach wie vor hoch. Die Reallöhne sinken. Für die Kaufkraft und damit den für die deutsche Wirtschaft wichtigen Privatkonsum verheißt dies nichts Gutes. Doch es ist Besserung in Sicht.
Von Anna Steiner, Frankfurt
Fachkräfte sind knapp und die Arbeitnehmer machen Druck für höhere Löhne: Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie fordern bei einer Kundgebung mehr Geld.
Verdi fordert 10,5% mehr Lohn für die Tarifbeschäftigten in Bund, Ländern und Kommunen. Die IG Metall verlangt 8,5% mehr für die Stahlkocher – und die Viertagewoche bei vollem Gehaltsausgleich. In der deutschen Geschichte muss man weit zurückgehen, um ähnlich hohe Tarifabschlüsse zu finden. Aufgrund des Fachkräftemangels sitzen die Arbeitnehmer vermeintlich am längeren Hebel. Ökonomen warnen vor einer Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation zusätzlich befeuern würde. Doch es gibt Aussichten auf Entspannung an der Lohnfront. „Wir erleben eine Zeitenwende im Arbeitsmarkt, da der Fachkräftemangel die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer deutlich stärkt“, erklärt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Gewerkschaften und Arbeitnehmer sind in einer starken Position, in den kommenden Jahren deutliche Lohnsteigerungen auch über die Produktivitätsentwicklungen auszuhandeln.“
Entkopplung schreitet voran
Spätestens seit diesem Jahr wird deutlich, dass Arbeitsmarkt und Konjunktur sich zunehmend entkoppeln. Einem sinkenden Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steht ein stabiler Arbeitsmarkt gegenüber. In früheren wirtschaftlichen Krisen reagierten die Unternehmen auf eine maue Geschäftslage häufig mit Massenentlassungen. Die Arbeitslosigkeit stieg teils sprunghaft an. Während der Coronavirus-Pandemie ließ sich die Robustheit des Arbeitsmarktes noch mit den umfassenden staatlichen Stützungen wie einem vereinfachten Zugang zu Kurzarbeitergeld erklären.
Dass sich der Arbeitsmarkt trotz einer seit Monaten schwächelnden Konjunktur auch ohne stark steigende Kurzarbeit robust hält, liegt nicht zuletzt am Fachkräftemangel. Die Entlassungsquote ist der BA zufolge in Deutschland so niedrig wie noch nie. „Beschäftigte werden gehalten, weil Wiederbesetzungen angesichts der Arbeitskräfteknappheit häufig problematisch wären“, erklärt Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.
Horten von Arbeitskräften
Tomas Dvorak, Senior Economist bei Oxford Economics, sieht den Hauptgrund für die überraschende Widerstandsfähigkeit der Beschäftigung in einem „Horten von Arbeitskräften“ durch die Unternehmen. Diese würden es demnach „vorziehen, ihre Arbeitskräfte zu behalten, selbst wenn die Nachfrage nachlässt, wenn sie glauben, dass die wirtschaftliche Schwäche nur von kurzer Dauer ist“, beobachtet Dvorak. Damit übereinstimmend zeigen Daten für die Eurozone ein zuletzt hohes Beschäftigungsniveau trotz schwachen Wachstums. Gleichzeitig jedoch nimmt das Niveau der geleisteten Arbeitsstunden ab. Die Produktivität sinkt.
Die Unternehmen stellt dies vor ein Dilemma. Sie müssen entweder geringere Gewinnspannen in Kauf nehmen, da sie höhere Lohnkosten bei geringerer Produktivität schultern. Oder sie entlassen qualifizierte Arbeitskräfte mit dem Risiko, in einigen Monaten, wenn die Konjunktur wieder Fahrt aufnimmt, Stellen nicht neu besetzen zu können. Dass die Arbeitslosigkeit bislang noch nicht dramatisch gestiegen ist – trotz Pandemie, Krieg und teurer Energie – ist für Dvorak ein Indiz, dass die Unternehmen derzeit eher höhere Lohnkosten in Kauf nehmen. Für die Arbeitnehmer bedeutet das zunächst, dass ihre Jobs sicherer sind. „Doch wird dies höchstwahrscheinlich auch zu einem gedämpften Lohnwachstum führen“, erklärt Dvorak. Denn die Unternehmen dürften versuchen, einen Teil der Last mit ihren Arbeitnehmern zu teilen. Die zuletzt gestiegene Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer angesichts des Fachkräftemangels kennt also Grenzen.
Reallöhne sinken
Dvorak beobachtet zudem eine langsame Trendwende. Denn das Horten von Arbeitskräften funktioniert nur, wenn die Konjunkturschwäche von kurzer Dauer ist. „Es scheint aber, als stünden wir jetzt vor einer längeren Periode schwachen Wachstums – oder sogar einer Rezession in der Eurozone“, so der Ökonom. Infolgedessen gibt es bereits erste Anzeichen für Entlassungen in den Unternehmen.
Dass die Arbeitnehmer die angespannten Arbeitsmärkte zuletzt für sich zu nutzen wissen, zeigt sich auf den ersten Blick auch in der Entwicklung der Tariflöhne. Diese dürften der Prognose des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zufolge 2023 um 5,6% steigen (siehe Grafik). Angesichts nach wie vor hoher Inflationsraten kommt es aber zu Reallohnverlusten. So sagen die Ökonomen des WSI ein Reallohn-Minus von 1,7% für dieses Jahr voraus. Auch DIW-Präsident Fratzscher erinnert daran, dass die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitnehmergehälter am gesamten Volkseinkommen, in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland gesunken sei und im internationalen Vergleich relativ gering ausfällt.
Gastronomie und Tourismus als Ausnahme
Oxford Economics beobachtet ebenfalls einen „erheblichen Reallohnverlust“. Daraus leiten die Ökonomen ab, dass das nominale Plus derzeit vor allem ein Aufholen der hohen Teuerung widerspiegelt. Zudem sei der Rückgang der Reallöhne breit gefächert. Schwächen zeigt hier vor allem das verarbeitende Gewerbe aufgrund der mauen Auftragslage. Eine Ausnahme sind Gastronomie und Tourismus und damit die Branchen, in denen es nach den mageren Jahren der Pandemie einen Nachholbedarf gibt.
„Das Lohnwachstum wird jedoch nicht lange hoch bleiben“, glaubt Riccardo Marcelli Fabiani, Frankreich-Ökonom bei Oxford Economics. „Die Abkühlung der Inflationserwartungen, die Normalisierung der Energie- und Güterpreise und das nachlassende Wachstum werden auch die Lohnforderungen in Grenzen halten.“ Der Lohndruck in Deutschland dürfte eher sinken. Eine Lohn-Preis-Spirale, in der als Reaktion auf die Inflation steigende Löhne die Teuerung weiter befeuern, halten die Experten von Oxford Economics daher für unwahrscheinlich. „Die Löhne haben es nicht einmal geschafft, mit der Inflation Schritt zu halten, geschweige denn sie zu übertreffen“, fasst Dvorak zusammen. Für 2024 erwartet der Ökonom ein überdurchschnittliches Lohnwachstum, doch bestehe kaum die Gefahr, dass die Inflation dadurch außer Kontrolle gerate.
Unwahrscheinliches Szenario
Auch Weber sieht nicht die Gefahr einer solchen preistreibenden Spirale. Zwar sorge der demografische Wandel in den 2020er Jahren voraussichtlich dafür, dass der deutsche Arbeitsmarkt schrumpft. „Daraus resultieren aber nicht automatisch steigende Löhne und sinkende Arbeitslosigkeit“, so der IAB-Ökonom. Fratzscher erwartet ebenfalls deutliche Lohnsteigerungen. „Das wird die Gewinne der Unternehmen wieder auf ein gesundes Maß reduzieren, und ein größerer Teil des Kuchens wird den Arbeitnehmern zugutekommen“, erklärt der DIW-Präsident. Dies sei eine „gesunde Entwicklung“. Dass Gewerkschaften und Arbeitnehmer den Bogen mit ihren Lohnforderungen überspannen könnten, hält der Ökonom für unwahrscheinlich.