Tokio

Komplizierte Wirklichkeit

Das Beben in Tokio vergangene Woche war längst nicht so schlimm wie das vor der Tsunami-Katastrophe 2011. Unser Autor war dabei und betreibt etwas – beruhigend gemeinte – Besserwisserei.

Komplizierte Wirklichkeit

In der vergangenen Woche erhielt ich einige besorgte Anfragen von Familie und Freunden aufgrund von Medienberichten über „das stärkste Erdbeben in Tokio seit der Tsunami-Katastrophe“. Die Schlagzeile hörte sich für deutsche Leser und Hörer dramatisch an. Aber mit der Realität hatte sie wenig zu tun. Die Erschütterungen um kurz vor 23 Uhr am Donnerstag vor einer Woche dauerten nur 30 Sekunden, das Wackeln war demnach recht schnell wieder vorbei.

Zehn Jahre zuvor hörte das Beben erst nach fünf Minuten auf! Ich war damals in Tokio und versichere bis heute jedem, der es hören will: Niemals fühlten sich fünf Minuten für mich so lange an. Erst kamen senkrechte Stöße, dann bewegte sich alles waagerecht, danach ging es hin und her, begleitet von einer mächtigen Geräuschkulisse aus Knacken und Knirschen.

Ein zweiter Unterschied: Vor zehn Jahren wurde auf der Richterskala eine Stärke von 9,0 bei einem Epizentrum in 24 Kilometer Tiefe gemessen, vergangene Woche waren es 5,9 bei einem Epizentrum in 80 Kilometer. Hier gilt: Je tiefer ein Beben ist, desto weniger gefährlich. Außerdem wichtig zu wissen: Bei der logarithmischen Richterskala entspricht ein Anstieg um einen Zähler der zehnfachen Stärke. Das Beben von 2011 war also 1000-mal kräftiger als das vor einer Woche. Damals mussten hunderttausende Pendler in Tokio zu Fuß entlang der Bahnstrecken nach Hause laufen. Auch diesmal fuhren die U- und S-Bahnen nicht mehr, aber die wenigen Betroffenen fanden meist noch ein Taxi für den Heimweg.

Und warum klangen die Berichte trotzdem so schlimm? Der Grund ist die japanische Messskala, die ein Beben anhand seiner Folgen für den Menschen mit Werten zwischen 1 und 7 beschreibt. In Tokio wurde 2011 und vergangene Woche eine Stärke von jeweils 5+ gemessen. Das heißt: Menschen hielten sich schwer auf den Beinen, Bücher fielen aus den Regalen, Strommasten schwankten. Die Schäden aber hängen von der Dauer und nicht nur der Stärke eines Bebens ab. Außer ein paar unterbrochenen Wasser- und Stromleitungen gab es daher nur wenig zu melden.

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Womit wir zum zweiten Teil meiner Besserwisserei kämen. Haben Sie mitbekommen, dass die japanische Prinzessin Mako Ende Oktober endlich heiraten darf? Viele Berichte stellten ihre Geschichte nach dem etablierten Schema dar, dass Frauen aus dem Kaiserhaus oft Mobbing-Opfer sind. Bereits die abgedankte Kaiserin Michiko, damals die erste Bürgerliche am Hof, verlor nach Pressevorwürfen zu ihrem angeblich falschen Benehmen monatelang ihre Stimme. Ihre Amtsnachfolgerin Masako leidet seit zwei Jahrzehnten an den Folgen einer Anpassungsstörung, weil sie keinen männlichen Erben gebären konnte.

Die knapp 30-jährige älteste Tochter von Kronprinz Fumihito scheint in dieses Schema zu passen. Erst legte das Hofamt die Ehe mit ihrer gleichaltrigen Studienliebe Kei Komuro für fast vier Jahre auf Eis. Nun teilte das Amt mit, dass Mako wegen der öffentlichen Kritik an ihrer Partnerwahl an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Bei vielen weckte das Timing der Diagnose Zweifel an deren Echtheit. Falls es ihr so schlecht gehe, wie könne sie dann am 26. Oktober heiraten und dazu eine Pressekonferenz geben, hieß es.

Tatsächlich lehnen Umfragen zufolge bis zu 90% der Japaner die Verbindung ab, weil Komuro nach ihrem Geschmack den Moralstandard des Landes nicht erfüllt. Seine Mutter soll hohe Schulden bei einem Ex-Verlobten nicht zurückgezahlt und Witwenrente unrechtmäßig bezogen haben. Sie merken schon: Schulden gelten in Japan als unmoralisch.

Aber auch Mako geriet in Misskredit. Sie verzichtet demonstrativ auf die staatliche Mitgift von 1,2 Mill. Euro. Aber ihr Schritt überzeugte viele Japaner nicht: Wenn sie das Kaiserhaus wirklich so stark ablehnt, wie sie es damit ausdrückt, dann hätte sie es nach der verschobenen Verlobung vor vier Jahren verlassen sollen. Doch Mako behielt lieber ihren Adelstatus, der ihr eine jährliche Apanage von umgerechnet 70000 Euro garantierte. Nach Meinung vieler Japaner sollte sie lieber Dankbarkeit zeigen, statt ihre Ehe ohne Rücksichtnahme auf die Volksstimmung durchzusetzen.