Kontrastprogramm im Jammertal
Der Chor der Standortkritiker ist dieser Tage ebenso vielstimmig wie stimmgewaltig. Lohnkosten, Energiekosten, Materialkosten – beim Aufwand ist Deutschland Spitze, bemängeln Wirtschaftsinstitute und Verbände. Unternehmen, die dem Kostendruck noch standhalten, schlägt der Bürokratiewahn in die Flucht. Folge: Die deutsche Wirtschaft ist auf Abwegen, ins Ausland, die deutsche Konjunktur ist das Schlusslicht in Europa.
Das interne Bild des Jammers kontrastiert indes ziemlich scharf mit der Außenwahrnehmung Deutschlands, wo Investoren die Mär vom „kranken Mann Europas“ ins Reich der Fabel verweisen oder ganz deftig gar als „Bullshit“ beurteilen. Denn: deutsche Unternehmen sind begehrt. Das ist die Kehrseite der viele beunruhigenden Übernahmewelle, die ganz aktuell über Schwergewichte wie Covestro oder Commerzbank, die immerhin zur Dax-Liga zählen, oder auch über Zulieferer, Logistiker und verschiedene Mittelständler hereinzubrechen scheint und die die Assoziation von „Ausverkauf“ weckt.
Attribute, die zählen
Auch aus dieser Perspektive sind überzeugende Argumente zur Hand. Das trotz aller Aufregung über ein zunehmend stärker fragmentiertes Parteienspektrum und einen vermeintlichen Rechtsruck immer noch als sehr stabil wahrgenommene politische Umfeld, die hohe Ausbildungsqualität und Fachkräftekompetenz sowie Forschungsexzellenz und Innovationskraft: All dies sind Attribute, die zählen, nicht nur für Investoren, sondern für viele heimische Firmen, insbesondere aus dem breiten Mittelstand, die am Standort Deutschland prosperieren, die hier produzieren und Kapital allokieren und damit ein Kontrastprogramm zum Trauerspiel einiger der heimischen Global Player liefern. Letztere sind ungehemmt dabei, hausgemachte Krisen zum Standortproblem umzudeuten, obwohl sie für hohe Personalkosten, mangelhafte Governance-Strukturen und Strategiefehler vor allem selbst verantwortlich sind – wie das Beispiel VW und der vermeintliche Leitsektor Automobilindustrie als Ganzes zeigen.
Einzelne Sanierungsfälle
Selbst verschuldete Schwierigkeiten in Relation zu Standortfaktoren treten vor allem zutage, wenn Sanierungsfällen auch Aushängeschilder in einer Branche gegenüberstehen. So finden sich in der von der E-Mobilitätswende stark gebeutelten Zulieferbranche auch Unternehmen, die dennoch finanziell gesund und wachstumsstark sind. Für die desolate Meyer Werft liefert Fr. Lürssen das Kontrastprogramm. Die Schwierigkeiten einzelner Unternehmen lassen nicht auf eine ganze Branche schließen.
Für den Mittelstand als das viel beschworene Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist Leistungs- und Technologieführerschaft traditionell der wesentlichste Wettbewerbsfaktor, mit dem sich auch im internationalen Vergleich Kostennachteile ausgleichen lassen. In einer Zeit technologischer Umbrüche, wie sie durch den Kraftakt der klimafreundlichen Transformation ausgelöst wurden, bricht für viele Unternehmen der gewohnte Wettbewerbsvorsprung weg. Dies gilt besonders für deutsche Autozulieferer und Teile des Maschinenbaus, die sich mit Blick auf die E-Mobilität neu aufstellen müssen. Mit Blick auf die desolate Lage der Branche zu behaupten, dass die Energiewende nur Kollateralschäden verursacht hat, verkennt indes die Realität zahlreicher Unternehmen, die im Gegenzug profitiert haben: sei es bei der Wind- und Solarenergie oder in der Wasserstoffindustrie, die dabei eine Schlüsselrolle spielt und international als Aushängeschild wahrgenommen wird.
Einzelne Wehwehchen
Tatsächlich schlagen sich viele junge Firmen und auch etablierte Mittelständler gut am Standort Deutschland. Was nicht heißt, dass überall eitel Sonnenschein herrscht. Während in der aktuellen politischen Migrationsdebatte um Grenzen der Zuwanderung gerungen wird, fürchten viele Dienstleistungsunternehmen hierzulande, dass ihnen die Arbeitskräfte ausgehen. Und während lautstark über die Gefahren von KI debattiert wird, ringt der Mittelstand noch vielfach um Anschluss an die Digitalisierung. Aber einzelne Wehwehchen machen noch keinen gänzlich kranken Mann.
Hier finden Sie alle Beiträge der Serie Zuversicht statt German Angst.
Standortperspektiven
Kontrastprogramm im Jammertal
Von Heidi Rohde
Der vermeintlich „kranke Mann“ Europas hat eine Vielzahl gesunder Firmen zu bieten. Sie profitieren von Standortqualitäten wie Fachkräftekompetenz und Forschungsexzellenz.