Krach in Wolfsburg
Bei Volkswagen kracht es wie seit der öffentlichen Demontage des Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn durch den inzwischen verstorbenen VW-Patriarchen und damaligen Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch im Frühjahr 2015 nicht mehr. Mitten in der Coronakrise, die zu liquiditätssichernden Maßnahmen zwingt und dem Zwölfmarkenkonzern im zweiten Quartal aller Voraussicht nach einen Verlust einbringen wird, zerren in Wolfsburg Softwareprobleme bei dem Ende 2019 eingeführten Golf der achten Generation und beim Elektroauto ID3, der der Elektromobilität von diesem Sommer an zum Durchbruch verhelfen soll, an den Nerven. Zudem schlagen unbegreifliche Kommunikations- und Marketingpannen im Unternehmen auf die Stimmung. Von einer ganzen Kette von Managementfehlern ist die Rede. Angezählt von der mächtigen Arbeitnehmervertretung ist nun Herbert Diess. Zwar sind die Spannungen zwischen dem seit gut zwei Jahren amtierenden Konzernchef, der im Juli 2015 von BMW kam und zunächst antrat, um die kaum profitable Kernmarke VW Pkw auf ein wettbewerbsfähiges Renditeniveau zu bringen und den Umstieg auf die Elektromobilität und andere Zukunftstechnologien voranzutreiben, und dem kaum minder selbstbewussten Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh keineswegs neu. Doch während in den vergangenen Jahren – etwa im Zusammenhang mit dem Ende 2016 vereinbarten “Zukunftspakt” für die Kernmarke – zumindest der Anschein eines Burgfriedens vermittelt werden konnte, lässt der inzwischen erreichte Grad an Differenzen und Vorwürfen die Vorstellung schwinden, wie eine Zusammenarbeit in Zukunft noch funktionieren soll. In die Öffentlichkeit getragene Putsch- und Ablösespekulationen, mit denen sich Diess gerade konfrontiert sieht, verstärken nicht nur die Unruhe im Unternehmen. Sie werden auch Narben hinterlassen.Diess will den weltgrößten Fahrzeugbauer zu einem klimaneutralen Technologieunternehmen umformen. Er setzt auf voll vernetzte Elektroautos. Das Automobil der Zukunft, sagt er, werde das komplexeste, wertvollste massentaugliche Internet-Device sein. Doch während es dem Konzernchef dabei vor allem darum geht, sich bei der Marktkapitalisierung von neuen Anbietern wie dem Elektroautobauer Tesla, der an der Börse wie ein Tech-Unternehmen bewertet wird, auf Dauer nicht abhängen zu lassen, hat Osterloh vor allem den Erhalt von Beschäftigung und Know-how, von Fertigung und Standorten in Deutschland im Blick. Hier weiß die Arbeitnehmervertretung das mit 20 % an VW beteiligte Land Niedersachsen hinter sich. Mit diesen Wolfsburger Machtverhältnissen hat sich der zehnte Vorstandsvorsitzende seit der Privatisierung des Autobauers im Jahr 1960 bis heute nicht arrangiert. Diess trat an, um für mehr Tempo beim Umbruch in Richtung E-Mobilität, autonomes Fahren und neue Mobilitätsdienste zu sorgen. Sein fokussierter Führungsstil und mangelnde Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten im Unternehmen könnten ihn scheitern lassen.Das derzeit wesentlich von den Kritikern geprägte Narrativ schwächt Diess. Mit seinen Analysen liege er richtig, es hapere aber an der Umsetzung, heißt es. Oder: Er stoße vieles an, sorge sich anschließend aber zu wenig um die weitere Entwicklung. Für die Zukunft von Diess in Wolfsburg wird es darauf ankommen, dass die Markteinführung des Elektro-Kompaktwagens ID3 und damit der Einstieg in die massentaugliche E-Mobilität wie geplant gelingt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es darum geht, Milliardenstrafen für ein Verfehlen der verschärften Klimaschutzvorgaben zu vermeiden. Die Differenz von 30 Gramm CO2 je Kilometer zum EU-Grenzwert kann VW in diesem und im nächsten Jahr nur mit einem spürbar steigenden Absatz von Plug-in-Hybrid- und Elektrofahrzeugen schließen.——Von Carsten SteevensAblösespekulationen, mit denen sich VW-Chef Diess konfrontiert sieht, verstärken die Unruhe bei dem Autobauer. Und sie werden Narben hinterlassen.——