EZB

Lagarde ist gefragt

Der EZB-Rat streitet über die Umsetzung der neuen Stra­tegie in die Forward Guidance. Die Notenbank darf sich jetzt nicht über Gebühr die Hände binden.

Lagarde ist gefragt

Es war glasklar, dass auch nach der einmütigen Einigung auf eine neue Grundsatzstrategie mitnichten für al­le Zeiten aller Streit im EZB-Rat über den jeweils aktuellen geldpolitischen Kurs ad acta gelegt sein würde. Wie schnell und wie heftig die EZB-Granden nun aber wieder aneinandergeraten, überrascht aber doch etwas. Im Mittelpunkt steht die Forward Guidance, also der Ausblick für die Leitzinsen und die Anleihekaufprogramme. Natürlich bedarf es da nach den Strategiebeschlüssen einer gewissen Anpassung. Der EZB-Rat darf es aber nicht übertreiben und sollte sich nicht vorschnell festlegen. Das kann sonst schnell nach hinten losgehen.

Was die Strategie insgesamt betrifft, ist sie sicher kein großer, gar revolutionärer Wurf. Das muss aber auch nicht ganz schlecht sein, weil selbst nach Weltfinanz- und Coronakrise nicht alle alten geldpolitischen Grundsätze leichtfertig über Bord ge­worfen gehören. Ge­mes­sen jedoch an dem Brimborium, das die Europäische Zentralbank (EZB) teils veranstaltet hat, bedeuten die Ergebnisse für einige eine Enttäuschung – etwa, wenn es um Klimawandel oder Ungleichheit geht. So sehr aber mancher Kommentator die EZB auch in die Rolle des Weltenretters hineinzureden versucht – dafür eignet sie sich definitiv nicht. Die EZB ist vor allem da, um Preis- und Geldwertstabilität zu sichern. So langweilig das manchem anmuten mag – das Ziel ist wahrlich wichtig genug, und die Erfüllung kann künftig schwieriger werden, als es derzeit erscheint.

Was nun den Kern der Strategie angeht, das neue Inflationsziel, bestätigt sich bereits jetzt, dass Konfliktpunkte mit Formelkompromissen übertüncht worden sind. Zwar gibt es bei den ge­nau 2% weniger zu deuteln als beim früheren „unter, aber nahe 2%“. Doch die weiter mittelfristige Ausrichtung, vor allem aber der explizite Verweis, dass eine geldpolitische Reaktion „von den jeweiligen Gegebenheiten abhängt“, schafft viel diskretionären Spielraum – und ergo Konfliktpotenzial. Vor allem aber ist völlig unklar, ob zeitweise höhere Inflationsraten als 2% nach Jahren unter Ziel geduldet, toleriert oder gar angestrebt werden. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat da bei der Vorlage der Strategie herumgeeiert, und unter den Notenbankern hat ein Kampf um die Deutungshoheit eingesetzt. Der EZB-Rat sollte sich aber nicht doch noch implizit verpflichten, zu niedrige Inflationsraten in der Zukunft auszugleichen.

Bei der Neuformulierung der Forward Guidance muss nun das neue Ziel übernommen werden. Zudem gilt es, das Versprechen zu „be­sonders kraftvollen oder lang anhaltenden geldpolitischen Maßnahmen“ an der Zinsuntergrenze und die Möglichkeit temporär höherer Inflation zu berücksichtigen. Für La­garde geht es aktuell vor allem um das „lang anhaltend“. Sie will jede Spekulation über eine baldige geld­politische Straffung im Keim ersticken. Tatsächlich wäre eine verfrühte Zinserhöhung kontraproduktiv. Die Notenbanker sollten die Null- und Negativzinsen aber auch nicht noch für sehr viel länger zementieren als oh­nehin schon. Sie sollten da­bei auch die Risiken nicht vollends aus dem Blick verlieren. Finanzstabilität als Voraussetzung für Preisstabilität bedeutet nicht nur, für günstige Finanzierungsbedingungen für die Staaten zu sorgen, sondern auch, den Aufbau von Finanzblasen zu verhindern.

Noch viel stärker gilt all das für die Anleihekäufe und speziell das Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP. Die Inflation zieht stärker an als erwartet, und die Erholung der Wirtschaft ist trotz aller Sorgen wegen der Delta-Variante in vollem Gang. Es ist Zeit, sich Gedanken zu ma­chen, wie die Unterstützung für die Wirtschaft perspektivisch gedrosselt werden kann. Es wäre da fast irrwitzig, wenn der EZB-Rat jetzt Signale für ein wie auch immer geartetes „PEPP 2.0“ nach März 2022 geben würde. Es kann sein, dass es dann eine temporäre Auf­stockung des Anleihekaufprogramms APP oder Ähnliches braucht. Was es aber ganz sicher nicht braucht, sind jetzt voreilige Vorfestlegungen. Was die Frage nach der Übertragung der großen Flexibilität von PEPP etwa auf APP angeht: Die Flexibilität war in der Krise nötig. Das heißt aber nicht automatisch, dass sie auch in Nichtkrisenzeiten angemessen ist. Uneingeschränkte Flexibilität erhöht das Risiko von Willkür.

Lagarde muss nun beweisen, dass sie auch künftig für Konsens sorgen kann – und sie sollte nicht auf Mario Draghis Pfaden wandeln und ihre sowie die Mehrheitsposition gegen großen Widerstand im EZB-Rat durchpauken. Dabei geht es nicht nur um Konflikte etwa mit Bundesbankpräsident Jens Weidmann – wobei auch ein solcher Streit fatal sein kann. Noch viel wichtiger ist die Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit. Ohne Rückhalt in Deutschland wird der Euro auf Dauer kaum eine Zukunft haben.

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