Litauen buhlt um Tech-Talente
Litauen buhlt um Tech-Talente
Geht es nach dem baltischen Staat, so soll dessen Hauptstadt Vilnius schon bald neuer europäischer Start-up-Hotspot werden. Mit einem 100 Millionen Euro schweren Infrastrukturprojekt wollen Investoren dafür nun die Weichen stellen – und dem bislang größten Start-up-Campus in Frankreich den Rang ablaufen.
Es ist eine paradoxe Situation, in der sich Litauen mit seiner exakt 700 Jahre alten Hauptstadt Vilnius derzeit befindet. Da ist zum einen die Sorge vor dem russischen Aggressor, von dem sich die ehemalige Sowjetrepublik 1990 losgesagt hat und der sich in seiner Exklave Kaliningrad eine 266 Kilometer lange Grenze mit dem abtrünnigen baltischen Staat teilt. Der Wagner-Aufstand hat nicht gerade zur Beruhigung des heutigen Nato-Mitglieds beigetragen. Auf Bitten von Präsident Gitanas Nauseda schickt Deutschland jetzt rund 4.000 Bundeswehr-Soldaten zusätzlich und dauerhaft an die litauische Ostflanke des Militärbündnisses.
Die geopolitische Anspannung ist also spürbar. Doch hält sie das kleine Land mit seinen gerade mal 2,8 Millionen Einwohnern nicht davon ab, wirtschaftlich groß zu träumen. Tatsächlich hat sich Vilnius nicht weniger als eine Zukunft als neuer europäischer Hotspot für innovative Tech-Firmen auf die Fahne geschrieben.
Das Ziel klingt auf den ersten Blick etwas überambitioniert – vor allem, wenn man das litauische Start-up-Ökosystem mit anderen gewichtigen Tech-Nationen in Europa vergleicht. So haben litauische Start-ups im vergangenen Jahr laut einer Dealroom-Analyse zusammengerechnet gerade mal 295 Mill. Euro eingesammelt. In Großbritannien, der in Europa als führend geltenden Start-up-Nation, kamen im gleichen Zeitraum fast 30 Mrd. Dollar zusammen. Etwa halb so viel Wagniskapital floss in Frankreich, in Deutschland waren es knapp 12 Mrd. Dollar.
Darius Zakaitis ist dennoch optimistisch. Der Gründer des Immobilienunternehmens Tech Zity hat gerade den Start eines gleichnamigen Infrastrukturprojektes verkündet, das Vilnius bei seinem Ziel helfen soll, zur Heimat der europäischen Digitalindustrie zu werden. Für 100 Mill. Euro will der Unternehmer auf einem ehemaligen Industriegelände im Zentrum der Stadt einen Campus errichten lassen, der in seinen Dimensionen dem Pariser Start-up-Hub „Station F“ als bislang größte europäische Herberge für Jungunternehmen künftig den Rang ablaufen soll. 5.000 Arbeitsplätze auf 55.000 Quadratmeter sind geplant, dazu jede Menge Co-Working-Bereiche, Meeting-Räume, Locations für Veranstaltungen sowie zehn Restaurants, Cafés und Bars.
„Ich habe 2009 angefangen, in das Tech-Ökosystem von Vilnius zu investieren – damals kannte man noch den Namen von jedem einzelnen Mitarbeitenden, man war mit ihnen per du, und das gesamte Ökosystem hat in einen Raum gepasst“, erinnert sich Zakaitis. Doch die Zeiten hätten sich geändert. „Jetzt beheimatet die Stadt einige der bekanntesten Tech-Firmen Europas, und wir wachsen in einem Tempo, das erhebliche Investitionen in die Immobilieninfrastruktur erfordert.“
Einhörner Made in Osteuropa
Das Wachstum der litauischen Digitalbranche, die zu 92% in Vilnius angesiedelt ist, hat sich in den vergangenen Jahren durchaus sehen lassen können. Seit 2017 ist der Gesamtwert junger Tech-Unternehmen in dem Land um das gut 16-Fache gestiegen, auf zuletzt 9,5 Mrd. Euro. Damit stellt Litauen laut Dealroom eines der am schnellsten wachsenden Ökosysteme in Mittel- und Osteuropa dar.
Aktuell zählt Vilnius gut 740 Start-ups, die vor allem in den Bereichen Business-Software, Fintech, Healthtech und Life Science unterwegs sind. In der Stadt sind auch drei Einhörner ansässig, also Unternehmen, die mit über 1 Mrd. Dollar bewertet werden. Das sind einmal der Cybersicherheitsanbieter Nord Security, das Kleinanzeigenportal Baltic Classifieds Group und der Second-Hand-Modemarktplatz Vinted. Im vergangenen Jahr hat die Region Mittel- und Osteuropa neun neue Einhörner hervorgebracht und die Gesamtzahl damit auf 44 gesteigert.
Vinted stellt mit ihrem Gründer und COO Mantas Mikuckas denn auch einen weiteren Investor, der sich an dem Projekt Tech Zity beteiligt. Laut dem US-Nachrichtenportal „Techcrunch“ steuert er 80% der bislang für das Projekt zugesagten 30 Mill. Euro bei. 20% kommen zudem von Tech-Zity-Gründer Zakaitis. Den großen Rest will der Projektentwickler mithilfe von Banken und anderen Privatinvestoren zusammenbekommen.
Schon im nächsten Jahr soll Tech Zity ihre Pforten öffnen. Den Machern geht es neben der generellen Anwerbung junger Start-ups vor allem darum, Tech-Arbeitern die Annehmlichkeiten der Präsenzarbeit nach der Corona-Pandemie wieder schmackhaft zu machen. „Da Hybridarbeit zur Norm wird, entwickelt sich das Büro zu einem Platz für Sozialisierung, Zusammenarbeit, Informationsaustausch und zum Lernen“, so das Unternehmen.
Um dem gerecht zu werden, setzt Tech Zity zum einen auf das industrielle Erscheinungsbild des Geländes, von dem möglichst viel erhalten bleiben soll. Die teils mehr als sieben Meter hohen Fabrikhallen, in denen früher vor allem Textilien produziert wurden, sollen einfach zu Büros umfunktioniert werden. Zum anderen soll das Gelände 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche geöffnet sein – und den „Bewohnern“ nicht nur ein reines Arbeitsumfeld, sondern auch Platz für alles darüber hinaus bieten, also zum Beispiel für kulturelle oder sportliche Veranstaltungen. Im Rahmen des Projekts stellt Tech Zity auch Privatunterkünfte zur Verfügung, die nahe an den Büros, aber auch nahe am Stadtzentrum gelegen sind.
Mehr Platz benötigt
Es ist nicht der einzige Tech-Campus, den Tech Zity künftig in Vilnius betreibt. Das Unternehmen steht auch hinter Tech Park, Tech Loft, Tech Art und Tech Spa, in denen unter anderem Google sowie das Online-Magazin „Bored Panda“ ein Büro haben. Zusammengerechnet bietet Zakaitis Start-ups mit seiner Immobilienfirma derzeit eine Fläche von insgesamt 20.000 Quadratmetern. Das erklärte Ziel ist eine Vervierfachung. Denn glaubt man dem Unternehmer, dürfte sich die Zahl der nach Vilnius strebenden Tech-Arbeiter aus dem Ausland künftig noch vervielfachen.
Das wäre auch ganz im Interesse der Stadt, die selbst seit einigen Jahren kräftig die Werbetrommel rührt, um die begehrten Talente anzulocken. Auf ihrer Website „GoVilnius“ preist die staatliche Entwicklungsagentur die üppige Begrünung, kurze Wege, schnelles Internet, Top-Universitäten, ein einfaches und günstiges Steuersystem sowie die Unterstützungsleistungen an, die den Zugezogenen mit Jobzusage angeboten werden. In manchen Bereichen wird wechselwilligen Spezialisten der Umzug nach Litauen sogar mit knapp 3.000 Euro bezuschusst.
Im Ergebnis wächst die Einwohnerzahl von Vilnius seit einigen Jahren kontinuierlich. Dabei zieht es vor allem jüngere Menschen in die Stadt – mehr als die Hälfte aller Einwohner ist derzeit unter 40 Jahre alt. Damit ist Vilnius laut eigenen Angaben die zweijüngste Stadt in Nordeuropa nach Kopenhagen. „Wir streben immer nach Titeln“, heißt es in einer Werbepräsentation der Entwicklungsbehörde.
Speziell für die Start-up-Welt hat das Land noch zwei ganz besondere Titel zu bieten. Wegen seiner hohen Universitätsdichte, der niedrigen Lebenshaltungskosten und vergleichsweise großzügigen Subventionen für die Kinderbetreuung stellt Litauen europaweit die höchste Zahl an weiblichen Mitarbeiterinnen in der Wissenschaft und im Ingenieurswesen. Als Folge gibt es kein anderes europäisches Land, in dem der Frauenanteil bei Start-up-Finanzierungsrunden so hoch ist wie in Litauen. Laut Pitchbook waren es 2022 durchschnittlich 28,5%. Im Start-up-Eldorado Großbritannien war der Anteil dagegen mit rund 24% deutlich geringer.
Von Karolin Rothbart, Frankfurt
Das Infrastruktur-Projekt „Tech Zity“ soll ab 2024 Tausenden Digitalarbeitern die Vorzüge der Präsenzarbeit schmackhaft machen – mit Annehmlichkeiten wie Co-Working Spaces, Meeting-Räumen sowie zahlreichen Restaurants, Cafés und Bars.