Notiert in London

Die Ungewaschenen

Großstädte wie London haben ihren eigenen Geruch. Das Maschinenaroma der U-Bahnen hat durchaus Fans. Doch die rasante Teuerung hat dafür gesorgt, dass andere Duftnoten in den Vordergrund rücken.

Die Ungewaschenen

NOTIERT IN LONDON

Die Ungewaschenen

Von Andreas Hippin

Die steigenden Lebenshaltungskosten haben unerwartete Nebenwirkungen. Früher roch es in den Waggons der Londoner U-Bahn im Gedränge der morgendlichen Rushhour wie in einer Textilreinigung. Inzwischen müffelt es ab und an. Das liegt nicht etwa daran, dass sich die Fahrgäste in letzter Zeit vermehrt Sorgen um den PH-Wert ihrer Haut machen würden. Es ist vielmehr so, dass mehr von ihnen nicht nur am Wochenende auf die morgendliche Dusche verzichten. Das gilt auch für Schüler. Sie werden schon lange nicht mehr von ihren Eltern abgeschrubbt und in die Schuluniform gebügelt, wie Lehrer klagen.

An der Seife sparen

Wie das Start-up Nous ermittelt hat, gibt es bei der Reinlichkeit große regionale Unterschiede. In Glasgow ist die Bereitschaft offenbar am größten, an der Dusche vorbei aus dem Haus zu gehen, gefolgt von Newcastle und London. Frauen verzichten öfter auf ein Bad als Männer. Die Waschmaschine wird auch nicht mehr so oft angeworfen. In der "Daily Mail" behauptete Nikola Howard (52) aus Bexleyheath, in den vergangenen Jahren Tausende Pfund gespart zu haben, weil sie nur einmal pro Woche duscht und ihre Kleidung vier oder fünf Tage lang trägt. Schlechte Zeiten für Seifenfabrikanten. Die Ungewaschenen sorgen für mehr Diversität, was das Pendler-Geruchserlebnis angeht.

Olfaktorisches Potpourri

Ohnehin gleicht der Weg in die City einem olfaktorischen Potpourri: Von den Dieselschwaden der SUVs auf der dicht befahrenen Straße zum U-Bahnhof bis zum warm-metallischen Schmierfett-Geruch auf den Bahnsteigen wird kaum etwas ausgespart. Die Website „Londonist“ hat sich die Mühe gemacht, die unterschiedlichen Aromen der 62 zentralen U-Bahn-Stationen der britischen Metropole auf einer Karte zu verewigen. Charing Cross rieche nach „sanft gebratener Maus mit Noten von Plastilin“, heißt es dort, Oxford Circus nach Haartrockner und Vauxhall wie eine alte Zeitung, die man in irgendeiner Schublade vergessen habe.

Maschinenaroma hat seine Fans

Entsprechende Duftkerzen gibt es noch nicht, obwohl man sie in unendlich vielen Sorten bekommen kann. Eine über die Plattform Etsy bestellbare Kerze ziert das „Underground“-Symbol, doch sie riecht nach nichts. Der Online-Design-Shop Art Wow vertreibt Duftkerzen mit U-Bahn-Motiven des Künstlers James Jefferson Peart, doch orientieren sie sich an gängigeren Gerüchen wie Patchouli, Rose oder Vanille. Dabei gibt es durchaus Fans des Maschinenaromas, das die Aufzüge, Rolltreppen und Züge der „Tube“ verströmen. Für viele weckt es Erinnerungen an ihre erste Fahrt mit dem Verkehrsmittel, das den Alltag in London prägt wie kein anderes.

Rauchverbot seit 1984

In der Bahn sind es nicht nur die fettigen Haare des Nebenmanns, die das Geruchserlebnis prägen. Da sind auch noch die frittierten Hähnchenteile, die ein anderer mit großem Genuss verzehrt, und der Nagellackreiniger der jungen Frau gegenüber. Am Wochenende kann man am frühen Morgen mit Hilfe der Ausdünstungen schätzen, wie viel die Nachbarn am Vorabend getrunken haben. Es kommt auch immer noch vor, dass Leute in der U-Bahn rauchen. Bis 1984 war das in dafür vorgesehenen Abteilen erlaubt. Nach der Brandkatastrophe in King’s Cross 1987 wurde es generell verboten. Damals starben 31 Menschen, als ein Feuer unter einer hölzernen Rolltreppe auf die unterirdische Schalterhalle übersprang. Einer öffentlichen Untersuchung zufolge wurde es durch ein brennendes Streichholz ausgelöst, das jemand fallenließ. Boris Johnson führte in seiner Zeit als Londoner Bürgermeister ein Alkoholverbot ein. Das sollte antisozialem Verhalten vorbeugen. Getrunken wird weiterhin.

Die „Tube“ verbindet. Man atmet die verbrauchte Luft von Abertausenden ein, die vor einem unterwegs waren. Doch wenn steigende Energiekosten dafür sorgen, dass das Rasierwasser billiger ist als die Dusche, könnte sich das schnell ändern. Umso schöner ist es dann, wenn sich auf den oberirdischen Teilen der Strecke die Türen der Waggons öffnen und ein frischer Wind hereinbläst. Er kommt vom Meer, glaubt man zu wissen. Man kann das Salz fast schmecken.

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