Schleichende Sozialdemokratisierung
Britische Wahlen
Schleichende Sozialdemokratisierung
Von Andreas Hippin
Die Tories haben sich Labour angenähert. So weit, dass sie Kernforderungen der Opposition einfach übernehmen.
Vermutlich werden sich Historiker in ein paar Jahrzehnten fragen, wann sich die britischen Konservativen von der Idee eines schlanken Staats und einer niedrigen Steuerbelastung verabschiedet haben. Wenn man sich das Vereinigte Königreich so ansieht, kann davon jedenfalls keine Rede sein, obwohl die Tories seit 2010 an der Macht sind. Seit 2015 regieren sie allein. Das hat aber nicht etwa dazu geführt, dass der ausufernde Staatsapparat zurechtgestutzt worden wäre. Die Pandemie sorgte vielmehr für einen weiteren Wachstumsschub.
Ungebremstes Wachstum des Apparats
An Geld mangelte es zunächst nicht, denn nach dem Sieg im Systemwettbewerb mit Moskau schrumpfte der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der für die Landesverteidigung aufgebracht werden musste, auf ein Drittel seiner früheren Größe. Zudem investierte der Staat wesentlich weniger. Privatisierungen und der Abverkauf von Sozialwohnungen brachten zusätzlich Geld in die Kasse. Die Nullzinspolitik nach der Finanzkrise sorgte dafür, dass der Schuldendienst leicht zu bewältigen war. Das ermöglichte ein nahezu ungebremstes Wachstum des öffentlichen Sektors, ohne dass dafür Steuern und Abgaben erhöht werden mussten.
Teure Staatsverschuldung
Die Folgen des Kriegs in der Ukraine und der höheren Energiepreise machen eigentlich ein besseres Wirtschaften der öffentlichen Hand nötig. Durch die rasant gestiegenen Zinsen fordert die Staatsverschuldung einen immer höheren Preis. Es müsste dringend in die verfallende öffentliche Infrastruktur investiert werden. Die Streitkräfte sind kaum noch in der Lage, ihren Aufgaben nachzukommen. Auf internationaler Ebene, etwa wenn es um die Sicherheit der Schifffahrt im Roten Meer geht, boxt das Land bereits weit über seiner Gewichtsklasse.
Letztes Aufbäumen der Thatcheristen
Vermutlich war der nicht gegenfinanzierte Wachstumshaushalt von Liz Truss das letzte Aufbäumen der thatcheristischen Tories, die sich nicht mit der schleichenden Sozialdemokratisierung des Landes abfinden wollen. Sie sind kläglich gescheitert, die Marktradikalen, die den Brexit für ein Fegefeuer der Regelwerke nutzen wollten, ebenso. Denn auch konservative Politiker gefielen sich darin, Subventionen an die Landwirtschaft und nicht wettbewerbsfähige Branchen zu verteilen. Das ist keine Brüsseler Spezialität. Und während der Pandemie wollte man schon gar nicht darauf setzen, dass die Zerstörung des Bestehenden neue Chancen hervorbringen wird, und erhielt bestehende Jobs um jeden Preis.
Austauschbare Aussagen
Da ist es dann kein Wunder, dass sich die programmatischen Aussagen von Labour und Tories zunehmend gleichen. Die Konservativen kupferten nicht nur die Übergewinnsteuer für die Öl- und Gasbranche von der Opposition ab. Auch dass nun der sogenannte Non-Dom-Steuerstatus für vermögende Ausländer abgeschafft wird, war Kernbestandteil des Programms von Labour-Führer Keir Starmer und seiner Finanzexpertin Rachel Reeves. Mehr Geld für Kinderbetreuung und das öffentliche Gesundheitswesen NHS stammt auch aus ihrem Repertoire.
Linksruck bleibt aus
Das Schöne daran ist, dass man nicht gleich wegen eines vermeintlich herannahenden Linksrucks zur Schnappatmung übergehen muss. Denn links ist Labour nicht mehr, auch wenn Starmer einst Mitglied des Führungsteams von Jeremy Corbyn war. Und die Tories dürften ihre konservativsten Mitglieder und Wähler an Reform UK verlieren, die Rechtspartei des Multimillionärs Richard Tice, bei der „Mr. Brexit“, Nigel Farage, als Ehrenpräsident fungiert. Ärgerlich ist nur, dass keine der großen Parteien auch nur daran denkt, die Ausgaben zurückzufahren. Mit Themen wie Deregulierung oder Reform von Verwaltung und Sozialsystem lassen sich eben keine Stimmen holen.
Politik des Performativen
Differenzierung spielt sich fast nur noch auf der performativen Ebene ab. Londons Bürgermeister Sadiq Khan machte es vor, als er sechs Bahnlinien der britischen Metropole wohlklingende Namen wie Suffragette Line gab. Das kostet nicht viel und vermittelt Menschen, die sich damit identifizieren können, das Gefühl, ernst genommen zu werden, auch wenn sonst nichts für sie getan wird.