Im BlickfeldMercosur-Abkommen

Wie Brasiliens Präsident Lula die Europäer verstört

Nach der Abwahl von Jair Bolsonaro in Brasilien ist Nachfolger Lula da Silva selbst vom Hoffnungsträger zum Problemfall geworden. Was wird aus dem ersehnten Mercosur-Abkommen?

Wie Brasiliens Präsident Lula die Europäer verstört

Wie Hoffnungsträger Lula die EU verstört

Nach der Abwahl von „Tropen-Trump“ Jair Bolsonaro in Brasilien haben die Europäer große Stücke auf dessen Nachfolger gesetzt. Doch Luiz Inácio Lula da Silva ist selbst zum Problemfall geworden. Was wird nun aus dem ersehnten Mercosur-Abkommen?

Von Andreas Fink, Buenos Aires, und Stefan Reccius, Brüssel

Wenige Monate hat es gedauert, bis Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva vom Hoffnungsträger der Europäer zum Problemfall geworden ist. Eigentlich wollte Ursula von der Leyen Lula, wie alle den Brasilianer nennen, dieser Tage besuchen. Doch die Chefin der EU-Kommission sagte ihre Reise ab, denn Brasiliens Präsident flog lieber nach China.

Es ist der vorläufige Tiefpunkt einer Entfremdung in Rekordzeit. Sie gefährdet das wichtigste Projekt in den Wirtschaftsbeziehungen: Mit der Abwahl von „Tropen-Trump“ Jair Bolsonaro verbanden Politik und Wirtschaft in der EU große Hoffnungen, das Mercosur-Handelsabkommen nach mehr als zwei Jahrzehnten endlich zum Abschluss zu bringen. Nun droht abermals alles zu scheitern.

Noch wollen Wirtschaftsvertreter ihre neu gewonnene Zuversicht nicht aufgeben. Kurz vor einer Anhörung zum Mercosur-Abkommen im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages kämpft Volker Treier um „die einmalige Chance für eine wirklich bessere und engere wirtschaftliche Kooperation dieser beiden großen Wirtschaftsräume“. Für den Außenwirtschaftschef des Industrieverbands DIHK geht es auch um „einen handelspolitischen Vorsprung“ vor China.

Riesige Freihandelszone

Über die Vorzüge des Mercosur-Abkommens gibt es keine zwei Meinungen. Es sieht vor, dass rund 90% der gegenseitigen Zölle binnen zehn Jahren wegfallen. Die Zollersparnisse für Unternehmen aus der EU und den vier südamerikanischen Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay summierten sich auf 4 Mrd. Euro. Die EU könnte sich Zugriff auf wichtige Rohstoffe sichern und neue Exportmärkte erschließen.

Bis heute ist der Mercosur einer der am stärksten abgeschotteten Wirtschaftsräume der Welt. Durchschnittszoll: 14%. Viele Konsumgüter sind wesentlich stärker belastet. Chemie, Maschinen- und Autobauer stöhnen über Zölle bis zu 35%. Durch das Handelsabkommen mit der EU entstünde eine der größten Freihandelszonen der Welt: 780 Millionen Verbraucher, rund ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung, ein Handelsvolumen von 77 Mrd. Euro für Güter und 31 Mrd. Euro für Dienstleistungen.

Streit über Zusatzvereinbarung

Allerdings sind die Vorbehalte in Teilen der EU mindestens so groß wie die Geschäftsaussichten lukrativ. Für Umweltschützer versündigen sich die Brasilianer an der Gesundheit des Planeten, indem sie mit Brandrodungen im Amazonas-Gebiet die Lunge der Welt abfackeln. Daran entzündet sich auch vehementer Protest europäischer Landwirte: Im Regenwald entstehen dadurch immer neue Weideflächen, was Furcht vor Wettbewerbsnachteilen hervorruft. Südamerikanisches Rindfleisch zu Dumpingpreisen, so eine Sorge französischer Landwirte, überschwemmt bald den europäischen Markt.

Eine Zusatzvereinbarung zum Umweltschutz soll den Durchbruch bringen. Sie würde beide Seiten verpflichten, die Pariser Klimaziele einzuhalten. Diese verlangen, die Entwaldung bis 2025 zu halbieren sowie den Waldverlust und die missbräuchliche Nutzung von Land bis 2030 umzukehren. Eine entsprechende Wunschliste aus Brüssel, die im März die Hauptstädte des Mercosur erreichte, enthält auch den Passus, auf „alle weiteren Entscheidungen“ der Vereinten Nationen zum Pariser Klimaabkommen zu reagieren und die Umweltbehörden angemessen zu unterstützen.

Mit diesen zusätzlichen Anforderungen will die EU-Kommission die in den letzten Jahren gewachsenen Widerstände europäischer Umweltverbände, Agrarlobbys und Regierungen in Österreich und den Niederlanden brechen. Doch die Südamerikaner spielen nicht mit: Sie lehnen eine bloße Zusatzvereinbarung ab und verlangen, den ganzen Vertrag aufzuschnüren. Dann müsste die EU im Gegenzug wohl ebenfalls Zugeständnisse machen. Die Folge wären jahrelange Nachverhandlungen, was Tore öffnen könnte für Avancen anderer Mächte.

China ruft

Zum Beispiel aus China. Die Regierung in Peking hat voriges Jahr ein Freihandelsabkommen mit dem kleinen Uruguay abgeschlossen. Entnervt von jahrzehntelangem Protektionismus der beiden Großen Argentinien und Brasilien, verstößt die wirtschaftsfreundliche Regierung in Montevideo mit diesem Vertrag absichtlich gegen die Grundregeln des Mercosur. Die verbieten es einzelnen Mitgliedern ausdrücklich, auf eigene Faust Freihandelsabkommen abzuschließen. In Europa, aber auch in den USA hat Uruguays Vorstoß Alarm ausgelöst, denn er befreit chinesische Unternehmen von den enorm hohen Zöllen, mit denen der Mercosur seine wenig wettbewerbsfähigen Industrien abschirmt.

Nun flirtet auch das Schwergewicht Brasilien unverhohlen mit China. Präsident Lula da Silva absolvierte in Schanghai und Peking ein umfassendes Besuchsprogramm, das eine Visite beim umstrittenen Telekommunikationskonzern Huawei ebenso einschloss wie die Amtseinführung der früheren brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff als Präsidentin der Investmentbank der BRICS-Staaten. Zum Klub gehören auch Indien, Südafrika – und Russland. Dass Lula die USA zur Deeskalation im Krieg Russlands gegen die Ukraine auffordert, wird in Brüssel mit Argwohn registriert. Schließlich klingt so etwas erschreckend nach dem Narrativ Wladimir Putins.

Mit Chinas Präsident Xi Jinping sprach Lula persönlich über die Zukunft der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. China ist mit Abstand der größte Handelspartner Brasiliens, das Handelsvolumen hat sich in diesem Jahrhundert verhundertfacht. Dass am Ende des Besuchs deutlich weniger Konkretes zustande kam als erwartet, werten viele Europäer wiederum als Signal der Hoffnung. So will sich Brasilien nicht dem chinesischen Mega-Infrastrukturprojekt Neue Seidenstraße anschließen. Chinas „One Belt, One Road“-Projekt kontert die EU-Kommission mit einer eigenen Initiative namens „Global Gateway“. Außerdem lehnte Xi Lulas Vorschlag ab, gemeinsam in der Ukraine zu vermitteln.

Südamerika-Gipfel im Juli

Für die Europäer scheint also noch nicht alle Hoffnung verloren. Schließlich gilt Lula als Gegenentwurf zu seinem Vorgänger Bolsonaro. Als am Abend des 30. Oktober in Brasilia der Sieg des linken Kandidaten feststand, wurde auch in Berlin und in Brüssel gefeiert. Tatsächlich erklärte Lula kurz nach seinem Amtsantritt, dass der EU-Mercosur-Vertrag nun absoluten Vorrang haben werde. Er hoffe auf einen Durchbruch bis zur Jahresmitte, sagte Lula Bundeskanzler Olaf Scholz, als der Ende Januar in Brasilia war. Die Nachverhandlungen über das Zusatzkapital, so die Hoffnung in Brüssel, sollen bis zum EU-Südamerika-Gipfel im Juli abgeschlossen sein.

Was, wenn auch das nach bald einem Vierteljahrhundert Verhandeln nicht gelingt? Der Ökonom Carl Moses, einer der besten Kenner der Materie, skizziert, was auf dem Spiel steht: Mit grünem Wasserstoff, generiert mit brasilianischer Sonne oder patagonischen Winden, könnten Chemiekonzerne, Pharmariesen und Stahlhersteller Güter für den gesamten Wirtschaftsraum beidseits des Atlantiks produzieren. Schon jetzt ist Europa der wichtigste Investor im Mercosur, während sich China vor allem die Rohstoffe sichern will. Hier und nicht bei den Agrarexporten könnte die Motivation für die Regierungen in Südamerika liegen, das Vertragswerk trotz aller Vorbehalte ins Werk zu setzen.

Suche nach Auswegen

Führende Handelspolitiker in Brüssel machen sich ihrerseits Gedanken über Auswege. Im Kern laufen ihre Überlegungen darauf hinaus, die Handelskapitel vom politischen Teil zu trennen. Als Blaupause dienen die Handelsbeziehungen mit Mexiko. Mehr als 20 Jahre nach Inkrafttreten ist der politische Teil zu Nachhaltigkeit und Korruptionskampf noch immer nicht überall ratifiziert. Trotzdem sind die meisten Zölle längst Geschichte, weil der Handelsteil des Abkommens mit Mexiko bereits seit dem Jahr 2000 greift. So oder ähnlich könnte es nach dem Willen der Befürworter notfalls auch mit dem Mercosur-Abkommen laufen. 

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