LEITARTIKEL

Müllers Misere

Seit gut zwei Monaten sind die jahrelangen Manipulationen von Emissionstests bei Dieselfahrzeugen im Volkswagen-Konzern bekannt. Das Ausmaß des Skandals ist nach wie vor offen. Die negativen Nachrichten für das Zwölfmarkenunternehmen reißen nicht...

Müllers Misere

Seit gut zwei Monaten sind die jahrelangen Manipulationen von Emissionstests bei Dieselfahrzeugen im Volkswagen-Konzern bekannt. Das Ausmaß des Skandals ist nach wie vor offen. Die negativen Nachrichten für das Zwölfmarkenunternehmen reißen nicht ab. Die versprochene schnelle und schonungslose Aufklärung, wer für “Dieselgate” verantwortlich ist, hat bis heute keine sichtbaren, geschweige denn abschließenden Ergebnisse hervorgebracht. Noch immer steht nicht endgültig fest, bei welchen Konzernmodellen und -motoren Software zur Verschleierung von Stickoxidwerten eingesetzt wurde. Gleiches gilt für Fahrzeuge mit “Unregelmäßigkeiten” beim Ausstoß von Kohlendioxid. Auch der Umfang des finanziellen Gesamtschadens lässt sich nicht seriös kalkulieren, gerade die Strafen in den USA sind nicht abschätzbar. Ratingagenturen senken den Daumen. Das Schreckensszenario für Volkswagen, dass sich Hiobsbotschaften und permanente Spekulationen weiter fortsetzen und zu einem empfindlichen Rückgang des Fahrzeugabsatzes und der Auslastung führen, ist nicht vom Tisch. Dem Konzern droht eine gefährliche Abwärtsspirale.Zwei Nachrichten aus diesen Tagen lassen tief blicken: Dass der Konzern erstens wegen absehbarer Milliardenkosten für die Nachrüstung von Fahrzeugen sowie für Schadenersatz- und Strafzahlungen an Kunden und Investoren seine Investitionen und auch den Planungszeitraum reduzieren würde, war zu erwarten. Wer mit unberechenbar hohen Belastungen zu rechnen hat, kann nur “auf Sicht” fahren. Zugleich überrascht aber der Plan, die Investitionen 2016 verglichen mit dem Durchschnittsniveau der vergangenen Jahre nur um knapp 1 Mrd. Euro oder weniger als 8 % zu kürzen.Dieser Einschnitt ins Budget dürfte kaum ausreichen, um die finanziellen Belastungen als Folge der Dieselgate-Affäre abzufedern. Eher nährt die Ankündigung den Verdacht, dass sich der neue Vorstandsvorsitzende Matthias Müller auch im Zuge der größten Krise in der Geschichte der Wolfsburger an enge Vorgaben der einflussreichen Arbeitnehmervertreter und des Großaktionärs Niedersachsen zu halten hat. Am 13. Oktober hatte Volkswagen allein bei der renditeschwachen Kernmarke VW Pkw eine Reduzierung von Investitionen um 1 Mrd. Euro pro Jahr gegenüber Plan angekündigt.Unbefriedigend erscheint nach den Verlautbarungen der vergangenen Wochen, Zukunftsprojekte zu “priorisieren”, zudem die Ankündigung, die Ausgaben für alternative Antriebe nur um rund 100 Mill. Euro zu erhöhen. Die Möglichkeit, in Anbetracht der ins Gerede geratenen Dieseltechnologie ein kräftiges Signal für die Entwicklung des Elektroautos zu senden, hat Volkswagen verpasst. Dabei müsste der größte Autobauer Europas, der sich mit dem Aufruf zu einer deutschen Herstellerallianz bei der Fertigung von Batterien für Elektroautos eine Abfuhr abholte, gerade jetzt, wo sich ein verschärfter Sparkurs im Zuge der Abgasaffäre abzeichnet, daran interessiert sein, in der Technologieentwicklung auch gegenüber der Konkurrenz Zeichen zu setzen.Für die große Verunsicherung im Volkswagen-Konzern sprechen zweitens die Verhandlungen mit Banken über eine Brückenfinanzierung von bis zu 20 Mrd. Euro. Bei liquiden Mitteln von zuletzt fast 28 Mrd. Euro ist ein akuter Handlungsbedarf zwar nicht zu erkennen. Aber nach der Herabstufung der Bonitätsnote durch die Ratingagenturen wollen die Wolfsburger für alle Eventualitäten vorsorgen und sich neue Kreditlinien beschaffen, ehe steigende Zinsen die Finanzierung verteuern. Das Timing der Gespräche mit den Banken ist insofern günstig, als die Ausmaße des Abgasskandals einschließlich der möglichen Folgen für den Fahrzeugabsatz noch offen sind. Ob die Kredite ausreichen werden, wird sich zeigen.Der Dieselgate-Skandal hat bei Volkswagen zur Einsicht geführt, dass der Konzern nach einer beispiellosen Wachstumsperiode eine Neuausrichtung benötigt hinsichtlich Strukturen, Mentalität, Führungskultur und Strategie. Die bisherigen Maßnahmen zur Krisenbewältigung und die Aussagen zur Neuausrichtung zeigen aber auch an: Am VW-Gesetz wird nicht gerüttelt, der Konzern wird nicht in Einzelteile zerlegt. Die Großaktionäre werden die Linie, das Unternehmen Schritt für Schritt zu reformieren, unterstützen. Zumindest so lange, wie die aktuelle Misere nicht zu einem drastischen Absatzrückgang führt und den Autobauer nicht in eine existenzbedrohende Krise stürzt. Die Aufarbeitung des Dieselgate-Skandals, so die Erkenntnis nach zwei Monaten, hat klare Grenzen.——–Von Carsten SteevensDie Aufarbeitung von Dieselgate hat klare Grenzen. Am VW-Gesetz wird nicht gerüttelt. Dafür reicht dieser Abgasskandal offenbar nicht aus.——-