Lieferkettengesetz

Nach der Lobbyschlacht

Das Lieferkettengesetz hat Schwächen – aber die Pauschalkritik einiger Verbände ist nicht gerechtfertigt. Die Debatte über den Mindestlohn lässt grüßen.

Nach der Lobbyschlacht

Was war das für ein Aufschrei, als die große Koalition 2013 den Mindestlohn auf den Weg brachte! Arbeitsplätze stünden zuhauf auf dem Spiel, die Wettbewerbsfähigkeit werde leiden, die soziale Marktwirtschaft irreversiblen Schaden nehmen. Sechseinhalb Jahre nach Einführung im Januar 2015 hat sich die Wirtschaft längst mit dem Mindestlohn arrangiert, und nur überzeugte Realitätsverweigerer würden behaupten, dass die anfänglichen Horrorszenarien Realität geworden sind.

Der Mindestlohn des Jahres 2021 sind die Sorgfaltspflichten. Dieser vage anmutende Begriff ist der Kern des Lieferkettengesetzes, mit dem Union und SPD nach jahrelangem Gezänk auf den letzten Metern eine Verabredung aus dem Koalitionsvertrag eingelöst haben. Das Prinzip: Größere Unternehmen müssen von 2023 an aktiv werden, wenn ihnen Hinweise auf Kinderarbeit, Sklavenarbeit oder ausbeuterische Geschäftspraktiken bei Zulieferern im Ausland vorliegen. Sie müssen sich auch selbst um entsprechende Informationen bemühen. Wirtschaftsverbände laufen Sturm, weil sie eine Überforderung der Unternehmen und in der Folge einen Massenexodus aus bestimmten Ländern befürchten. Das Ergebnis war eine Lobbyschlacht seltenen Ausmaßes, die sich in der zweiten Runde nach Brüssel verlagern wird. Dort stockt die Arbeit von EU-Kommission und Parlament an einem EU-Lieferkettengesetz.

Es geht nicht darum, hiesige Sozialstandards und Lohnniveaus in alle Welt zu exportieren. Sondern sicherzustellen, dass Beschäftigte von Kongo bis Bangladesch unter menschenwürdigen Bedingungen und ohne Sorge um Leib und Leben arbeiten. Um es mit Ferdinand von Schirach zu sagen: „Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.“ So lautet Artikel 5 der europäischen Grundrechtecharta, mit der von Schirach im Frühjahr breite Aufmerksamkeit erregte. Diesen Geist teilen immer mehr Unternehmer und Verbraucher. Die Bundesregierung hat ihn nun in Gesetzesform gegossen.

Grundsätzlich sind die Sorgen der Wirtschaft ernst zu nehmen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein Gutteil des Wohlstands im Ausland erwirtschaftet wird. Dass es auf absehbare Zeit keine EU-weit einheitlichen Regeln geben wird, ist unter dem Aspekt der Wettbewerbsgleichheit ein wunder Punkt. Doch die pauschale Verdammung des Lieferkettengesetzes hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Die Sorgfaltspflichten sind abgestuft, vollumfänglich greifen sie nur bei direkten Zulieferern. Ausländische Firmen mit Sitz in Deutschland sind nun erfasst. Und mit der Klarstellung, dass keine zusätzlichen zivilrechtlichen Risiken drohen, ist der aus Verbändesicht größte Sündenfall abgewendet worden. Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen können im Namen Betroffener vor deutschen Gerichten klagen. Ob das eine Klageflut nach sich ziehen wird, ist zu bezweifeln. Empfindlicher sind Bußgelder bis zu 2% des Jahresumsatzes und ein dreijähriger Ausschluss von öffentlichen Aufträgen. Nicht zu unterschätzen ist ein Reputationsschaden, wenn das mit Kontrolle und Durchsetzung beauftragte und personell aufgestockte Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) Missstände anprangert.

Der Lackmustest für das Lieferkettengesetz wird der Umgang Chinas mit der Minderheit der Uiguren in der Provinz Xinjiang. In einem Gutachten sind die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags zu der Einschätzung gekommen, dass das Lieferkettengesetz Unternehmen zum Rückzug aus Xinjiang zwingen könnte. Industriekreisen zufolge betrifft das knapp ein Dutzend Unternehmen, die vor Ort produzieren lassen. Der prominenteste Fall ist Volkswagen, was angesichts des Klumpenrisikos Chinas gerade für Autokonzerne delikat ist. Mit Lavieren und Wortakrobatik ist es künftig angesichts erdrückender Berichte über Zwangsarbeit in Xinjiang jedenfalls nicht mehr getan.

Für Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe geht es „ein Stück weit um eine Internationalisierung der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft“. Dazu gehört auch, dass das Eintreten für menschenwürdige Arbeitsbedingungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette, wie es immer mehr Unternehmer beispielhaft vorleben, nicht seinerseits zum Wettbewerbsnachteil werden darf. Und betonen die Verbände nicht ohnehin bei jeder Gelegenheit, dass dieses Prinzip für Unternehmer selbstverständlich ist? Das Lieferkettengesetz stellt klar: Der Schutz der Menschenrechte ist nicht kapitalistische Kür, sondern unternehmerische Pflicht.