London

Neue Abnormalität

Großbritannien tut sich schwer mit seinen Helden. Das zeigen die mitunter bösartigen Reaktionen auf den Tod von Captain Tom Moore. Der hundertjährige Weltkriegsveteran hatte Spenden in Höhe von mehr als 30 Mill. Pfund für den National Health...

Neue Abnormalität

Großbritannien tut sich schwer mit seinen Helden. Das zeigen die mitunter bösartigen Reaktionen auf den Tod von Captain Tom Moore. Der hundertjährige Weltkriegsveteran hatte Spenden in Höhe von mehr als 30 Mill. Pfund für den National Health Service (NHS) eingeworben, indem er mit seinem Rollator unermüdlich Runden im Hof drehte. „Der Kult um Captain Tom ist ein Kult des weißen britischen Nationalismus“, urteilte der anglikanische Geistliche Jarel Robinson-Brown. Er werde ihn nicht beklatschen, wie von Premierminister Boris Johnson angeregt, aber er werde für seine „gütige und großzügige Seele“ beten. Johnson wollte mit seinem Vorschlag an das wöchentliche Geklatsche für den NHS zu Anfang der Pandemie unter dem Motto „Clap for Carers“ anknüpfen, das landesweit zu Gefühlsaufwallungen führte, wie man sie in Großbritannien wohl seit 1914 nicht mehr beobachtet hat. Später löschte Robinson-Brown diese Twitter-Botschaft, kam aber nicht umhin, sich dafür zu entschuldigen. Aber nicht nur die aus den USA importierte toxische Identitätspolitik vergiftete die Atmosphäre.

Die Fernsehmoderatorin Beverley Turner twitterte, dass sie nicht für Moore klatsche, weil sie die Angst nicht aufrechterhalten wolle, ständig von Tod umgeben zu sein. Es stimme nicht, dass in der Pandemie alle im selben Boot säßen. Und es sei nie wichtiger gewesen, das vorherrschende Narrativ in Frage zu stellen. Andere kritisierten Moore dafür, dass der Großvater sich noch einen Wunsch von der Liste von Dingen erfüllt hatte, die er während seines Lebens noch tun wollte: eine Reise nach Barbados. Das sei ein Verstoß gegen die Reisebeschränkungen gewesen, argumentierten Kleingeister fälschlicherweise auf den Selbstentblößungsplattformen des Internets. Und auf seinem Trip habe er sich schließlich auch das Coronavirus eingefangen. Tatsächlich starb Sir Tom an Covid-19, nachdem er wegen einer Lungenentzündung im Krankenhaus von Bedford behandelt worden war. Der bei der Einlieferung durchgeführte Coronatest war der Familie zufolge noch negativ, bei der Rückkehr aus der Karibik durchgeführte Tests ebenso.

Das ist bitter für die Beschäftigten des Krankenhauses, die selbst ständig dem Risiko einer Ansteckung am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Mehr als 850 Mitarbeiter des britischen Gesundheitswesens und der Altenpflege sind an Covid-19 gestorben, 52 000 waren zuletzt daran erkrankt. So sieht die Schattenseite der „Liebe“ zum NHS und der Heldenverehrung aus, die Intensivmedizinern und Krankenschwestern entgegengebracht wird. Sie impliziert, dass das Personal im Gegenzug auch weiter sein Leben für „das große Ganze“ aufs Spiel setzen soll. Der australische Doktor David Berger spricht in diesem Zusammenhang von einer „neuen Abnormalität“.

Der NHS-Führung und den Gesundheitspolitikern kommt der Heldenkult entgegen, hilft die damit verbundene Selbstausbeutung der Mitarbeiter doch dabei, mit noch weniger Mitteleinsatz den Eindruck einer funktionierenden Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Kaum ein Tag vergeht ohne emotional aufgeladene Fernsehberichte aus irgendeiner Intensivstation. Doch der NHS ist keine „Familie“, sondern eine erstarrte, seelenlose Bürokratie, deren Fehler in der Pandemie Tausende das Leben gekostet haben. Der öffentlich-rechtliche Heldenkult hilft ihr, die Frage zu umschiffen, warum für Ärzte und Pfleger nicht die gleichen Arbeitsschutzrichtlinien gelten sollten wie für Bauarbeiter oder Bankangestellte. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass der NHS alle Anstrengungen unternimmt, um die Ansteckung seiner Mitarbeiter zu vermeiden. Doch wird seit Ausbruch der Pandemie versucht, mit möglichst wenig Sicherheitsanforderungen klarzukommen. Eine hohe psychische und physische Belastung kommt hinzu. Wer dem Bild vom NHS-Helden entsprechen will, kann schließlich nicht Nein sagen, wenn er gefragt wird, ob er nicht doch noch eine Schicht übernehmen kann, und hat auch keine Probleme damit, hohe Risiken für die eigene Person einzugehen. Burnout und posttraumatische Belastungsstörungen sind unter solchen Umständen nichts Ungewöhnliches. Entsprechend viele hängen den Job an den Nagel.