Notiert inMoskau

Neue Sehnsucht nach Europa

Auch wenn die Russen sich an fast alles leicht gewöhnen – auf das einst geliebte Europa gänzlich verzichten wollen sie doch nicht.

Neue Sehnsucht nach Europa

Neue Sehnsucht nach Europa

Notiert in Moskau

Von Eduard Steiner

Die frappierende Fähigkeit der Russen, mit widrigen äußeren Bedingungen zurechtzukommen, wird gern mit ihrer widerspruchslosen Unterwürfigkeit und Eselsgeduld erklärt. Das freilich greift zu kurz und lehnt sich zu sehr an einem oberflächlichen Stereotyp an. In Wirklichkeit erklärt sich diese Fähigkeit nämlich mindestens so sehr mit einer immensen Krisenerfahrung im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, die eine große Anpassungskompetenz mit sich brachte.

Seit dem Beginn des Ukrainekrieges und der westlichen Sanktionen manifestiert sich diese Anpassungskompetenz insbesondere in der Resilienz der Wirtschaft. Obwohl ihr ein steiler Absturz prophezeit worden ist, steht sie im dritten Kriegsjahr nach wie vor robust da. Natürlich sind andere Faktoren, wie insbesondere die hohen Staatsausgaben für die Rüstungsindustrie, wesentlich dafür verantwortlich. Aber eben auch die Flexibilität der krisenerfahrenen Menschen im Allgemeinen und der Privatunternehmer im Besonderen, wie Beobachter immer betonen.

Russen reisen wieder mehr nach Europa

Die Anpassungsfähigkeit tritt freilich vielerorts zutage. In letzter Zeit unter anderem auch in einer verstärkten Wiederaufnahme der einst so beliebten Reisen in das nun angeblich so unfreundliche, ja verfeindete Europa. Wie die russische Zeitung „Kommersant“ kürzlich in einer Analyse zu den russischen Auslandsreisen im zweiten Halbjahr 2024 darlegte, ist die Nachfrage nach Reisen in Länder wie Ungarn, Montenegro, Italien, Griechenland, Bulgarien, Portugal, Deutschland und Zypern je nach Destination um 21 bis 70% gegenüber dem Vergleichszeitraum 2023 gestiegen.

Der Basiseffekt spielt hier natürlich auch eine Rolle. Befördert wurde die neue Tendenz aber gerade dadurch, dass neue Reiserouten mit neuen Anschlussflügen entstanden. Sind in den ersten beiden Kriegsjahren die meisten Flüge nach Westeuropa über Istanbul, Dubai und Belgrad erfolgt, so sind inzwischen Routen über russische Nachbarstaaten wie Georgien, Aserbaidschan oder Armenien hinzugekommen. Auch über Kuwait beispielsweise hat sich eine Route etabliert.

Lange Schlangen an den Konsulaten

Dafür bildet sich an anderer Stelle ein neuer Flaschenhals – und zwar an den Konsulaten der europäischen Länder in Russland. Zum Teil nämlich haben sie ihr Personal reduziert und zusätzliche Anforderungen für die Ausstellung eines Schengenvisums beschlossen. Weil aber die Nachfrage nach diesen Visa im ersten Halbjahr unterschiedlichen Reiseveranstaltern zufolge um 30 bis 100% gestiegen ist, verlängert sich entsprechend die Wartezeit um Wochen, wenn nicht Monate.

Nicht so bei den chinesischen und indischen Konsulaten in Russland, weshalb die Nachfrage nach chinesischen und indischen Visa ebenfalls nach oben geschnellt ist. Gut möglich, dass diejenigen Russen, die es sich leisten können, zwischendurch auf einen Trip nach Asien fliegen, ehe sie dann nach Monaten auch wieder ein Visum für Europa in der Hand haben. Sie passen sich an alle Umstände an und machen das Beste daraus.

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