LEITARTIKEL

Neugründung von Siemens

Der Siemens-Konzern verdankt der industriellen Revolution seine Existenz. Die epochale Umwälzung des Wirtschaftens ermöglichte es Werner von Siemens vor 172 Jahren, mit Gründung seines Unternehmens den Grundstein für einen Global Player zu legen....

Neugründung von Siemens

Der Siemens-Konzern verdankt der industriellen Revolution seine Existenz. Die epochale Umwälzung des Wirtschaftens ermöglichte es Werner von Siemens vor 172 Jahren, mit Gründung seines Unternehmens den Grundstein für einen Global Player zu legen. Diese Geschichte steuert nun auf ihr Ende zu. Der Konzern hat seine Selbstauflösung begonnen, indem er sich in zahlreiche Unternehmen zerlegt. Osram und Medizintechnik segeln ebenso wie die Windkraftaktivitäten bereits unter eigener Flagge, das Geschäft mit der konventionellen Energieerzeugung und perspektivisch die Bahntechnik werden folgen.Doch es wäre falsch, dies ausschließlich als Schlusspunkt zu deuten, auch wenn ein Monolith unwiderruflich aus der Unternehmenslandschaft verschwindet. Es ist zugleich ein – in dieser Größenordnung – seltener Akt der schöpferischen Zerstörung zu beobachten. Im besten Fall leitete das Jahr 2019 die Neugründung der Siemens AG ein.Diese Neugründung soll die Frage beantworten, wie Siemens die vierte industrielle Revolution überleben kann. Komplexität raus, Schnelligkeit rein: So lautet die Grundformel. Die Münchner widmen sich künftig in ihrem Kerngeschäft ausschließlich dem Umbau der Industrieproduktion mit Hilfe digitaler Lösungen (Digitale Industrie) und der Anbindung diverser Infrastrukturen an das Internet (Intelligente Infrastruktur). Das Kalkül: Standards setzen und Dominanz aufbauen, um in den folgenden Jahrzehnten die Früchte ernten zu können. Denn diese Digitalaktivitäten folgen einem völlig anderen Pulsschlag als das Großanlagengeschäft beispielsweise in der Energie-Sparte.Die Neugründung soll sich auch für die Aktionäre auszahlen. Höhere Gewinnmargen, weniger Volatilität der Ergebnisse und geringere Kapitalintensität verspricht das Management. Diese Rechnung kann aufgehen, muss aber nicht. Zwar sind die Renditen aktuell extrem hoch, doch so mancher Vorstand wichtiger Kunden schimpft hinter vorgehaltener Hand über jährliche Siemens-Preissteigerungen, während die eigenen Absatzpreise bestenfalls stagnierten. Auf jeden Fall bleiben für Siemens als Risiko die kurzen Reaktionszeiten auf einen Konjunktureinbruch: Die Aufträge reichen gewöhnlich nur sechs bis acht Wochen in die Zukunft. Siemens will dieser Gefahr begegnen, indem das Geschäftsmodell verändert wird: Ist die Software erst einmal installiert, wird ein kontinuierlicher Einnahmestrom erwartet.Keine Neugründung ohne Gründer. Sein Name lautet Joe Kaeser. Der Vorstandsvorsitzende hatte bei seinem Amtsantritt 2013 eine Orientierungslosigkeit im Alltagsgeschäft und eine Strategie-Apathie vorgefunden. Gemeinsam mit seinem Finanzvorstand Ralf Thomas hat Kaeser den Konzern operativ gedreht. Strategisch gibt es zwar auch Umwege und Richtungsvariationen. In der Vision 2020 wollte Kaeser Siemens unter anderem noch entlang der Elektrifizierung ausrichten, nun wird die Energieerzeugung angesichts der Gaskraftwerkkrise abgestoßen. Seinen wichtigsten Zielen jedoch ist Kaeser treu geblieben. Vor allem hat er Optionen für alle Sparten geschaffen. Deren eigenständige Aufstellung erweitert den Aktionsraum enorm. Dies verringert die Gefahr, dass sie in verändertem Markt auf dem falschen Fuß erwischt werden.Die Pläne für das neue Energie-Unternehmen – “Siemens Power” ist ein denkbarer Name – überzeugen allerdings nicht. Die Geschäftsaussichten sind schlecht, das Unternehmen bleibt ein Restrukturierungsfall. Zwar werden den Siemens-Aktionären die Anteilscheine anfangs zwangsweise ins Depot gelegt. Aber wie ist ein Absturz des Aktienkurses zu vermeiden? Eine niedrige Bewertung oder hohe Kapitalausstattung kann dies zwar verhindern, aber dies geht auf Kosten des Industrie-Kerngeschäfts. Aus der operativen Perspektive verwirrt, dass “Siemens Power” das Siemens-Gamesa-Geschäft mit erneuerbaren Energien nur als Aktienpaket hält. Synergien gibt es so nicht, die Aktien wären nur eine Kapitalreserve. Dies aber ist kein Energiekonzern aus einem Guss, sondern eine Notlösung. Siemens muss nach einer Neuaufstellung qua Fusion suchen.Was folgt auf eine Neugründung? Für das künftige Kerngeschäft gibt es nur eine Option: Expansion. Eine Übernahme ließe sich finanzieren, indem der Anteil an Siemens Healthineers (85%) reduziert wird. Kaeser spricht bereits von einem “Merger-Endgame”. Der Weg hierzu wäre frei, sollte die EU eine europäische Ministererlaubnis im Fall von kartellrechtlich bedenklichen, aber industriepolitisch gewünschten Zusammenschlüssen einführen.—-Von Michael FlämigDie vierte industrielle Revolution führt zu einer Neugründung von Siemens. Der Konzern schrumpft, aber das Kerngeschäft soll gestärkt werden.—-