Nicht auf Aktie gepolt
Manchmal ist ein Problem gravierend und die Lösung einfach – zum Beispiel in der Ernährung. Geschätzt 2,8 Millionen Lebensjahre gehen in Deutschland pro Jahr durch ungesunde Kost verloren, wie ein Expertenteam der Universität Bielefeld, des Robert-Koch-Instituts und weiterer Institutionen bereits vor einigen Jahren festgehalten hat. Die weltweit wichtigsten Gründe für ernährungsbedingte frühzeitige Todesfälle sind zu viel Salz und zu wenig Vollkorn, zu wenig Obst, zu wenig Nüsse und Saaten sowie zu wenig Gemüse. Eine gesunde Vorsorge wäre also eigentlich ganz einfach.
So wie in der Ernährung, so pflegen viele Menschen auch ein ungesundes Verhalten in der langfristigen Geldanlage. Lebensjahre stehen dabei nicht auf dem Spiel, aber immerhin die Reserven im Alter. Doch 2,7 Bill. Euro oder rund 33000 Euro je Bundesbürger entfallen nach Daten der Bundesbank auf Bargeld und Einlagen, während Fonds und börsennotierte Aktien gerade einmal 1,1 Bill. Euro oder 13000 Euro pro Kopf ausweisen. Wäre das Verhältnis stattdessen ungefähr ausgewogen, wären die privaten Haushalte in Deutschland nach wenigen Jahrzehnten wegen der höheren Renditeaussichten voraussichtlich um eine Billionensumme reicher. Wie die Ernährung ist auch das Aktiensparen im Grunde einfach und beruht auf wenigen Prinzipien: breit streuen, auf lange Sicht anlegen, schrittweise einsteigen – und überhaupt einmal anfangen.
Die Ernährung hat sich weltweit im Laufe der Jahrzehnte nicht wesentlich verbessert, doch immerhin hat sich die Aktienkultur in Deutschland nach Dotcom-Kater und Finanzkrise erholt. Es gibt laut Schätzung des Deutschen Aktieninstituts hierzulande mittlerweile 12,4 Millionen Menschen, die Einzelaktien besitzen oder über Aktienfonds und Aktien-ETFs dabei sind. Das sind 2,7 Millionen mehr als nur ein Jahr zuvor. Gerade in jungen Generationen nimmt die Lust auf Aktien zu. Und auch das Modell der Fondssparpläne gewinnt Anhänger.
Und doch ist das Sparverhalten noch lange nicht so gesund, wie es sein sollte. Neu angespartes Geld der privaten Haushalte kam jüngsten Angaben zufolge vor allem dem Bargeld und den Sichteinlagen zugute, und nur ein kleinerer Teil floss in Aktien und Fonds. Gesunde Anlageprinzipien kommen weiterhin zu kurz: Statt breit zu streuen, haben viele Menschen in der direkten Aktienanlage ihr Geld überwiegend in deutsche Titel angelegt; statt auf lange Sicht dabeizubleiben, beteiligen sich etliche Sparer am riskanten und kurzfristigen Handel mit gehebelten Instrumenten, der zuletzt stark zugenommen hat und oft zu Verlusten führt; und ob die Deutschen dem Prinzip des schrittweisen Einstiegs folgen, wird sich in der nächsten Durststrecke an der Börse zeigen.
Einfache Regeln sind mitnichten leicht zu befolgen. Das menschliche Gehirn ist, geprägt durch die Knappheit der Vorfahren, auf energiereiche und salzige Kost ausgerichtet, was im Zeitalter des Überflusses und industriellen Verarbeitung ein Problem ist. In ähnlicher Weise ist die Masse im Schädel nicht auf Aktie gepolt. Die Auffassung, dass Menschen intuitiv einen Verlust mehr fürchten als entgangene Gewinne, wird in der Verhaltensökonomik lebhaft diskutiert. Eine tief verankerte Furcht vor Verlusten jedenfalls könnte Teil der Erklärung sein, warum noch immer viele Menschen die Börsen meiden. Natürlich ist bekannt, dass nullverzinste Anlagen nur kurzfristig vor Verlusten schützen, während auf lange Sicht nach Abzug der Inflation ein Minus droht. Das aber verrät uns der menschliche Verstand, nicht die Intuition.
Die Tücken der Psychologie können Anleger aber auch in eine andere Richtung treiben: Der jüngste Boom der Tech-Aktien hat vielen Menschen rasche Kursgewinne beschert. Zumindest in der Vergangenheit haben solche Phasen zu hohen Erwartungen geführt. Das Problem ist den Börsen immanent: Erfahrungswerte, von denen wir uns leiten lassen, sind in einer regelmäßigen Umwelt viel wert – nicht aber an den kurzfristig chaotischen Aktienmärkten.
Ein gesundes Verhalten sollte daher auch durch die Politik gefördert werden: Während in der Ernährung eine bessere Kennzeichnung von Lebensmitteln und ein solider Schulunterricht Teil der Lösung sein können, bieten sich in der Geldanlage zum Beispiel standardisierte Anlagelösungen an, etwa als kapitalgedeckte Säule in der gesetzlichen Rente oder als Standardprodukt in der betrieblichen Altersvorsorge. Eine gesunde Aktienkultur bleibt darüber hinaus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Finanzbranche, Anlegerschützer, Medien und Forschung – sie alle tragen Verantwortung.