LEITARTIKEL

No Lessons Learned

Die schnelle und umfassende Aufklärung hat höchste Priorität." So die Worte des damaligen Volkswagen-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn im September 2015 kurz vor seinem Rücktritt nach Bekanntwerden des Abgasbetrugs. Auch Winterkorns Nachfolger...

No Lessons Learned

Die schnelle und umfassende Aufklärung hat höchste Priorität.” So die Worte des damaligen Volkswagen-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn im September 2015 kurz vor seinem Rücktritt nach Bekanntwerden des Abgasbetrugs. Auch Winterkorns Nachfolger haben dies bekräftigt, getreu dem Motto: links antäuschen und rechts vorbeilaufen. Doch wirklich aufgeklärt haben bisher nur Strafverfolger, Behörden und Medien – zuerst in den USA, jetzt in Deutschland. Die konzerninternen Recherchen einschließlich der Untersuchungen der Anwaltskanzlei Jones Day dienten offenkundig nur der bestmöglichen Vorbereitung Volkswagens auf die zu erwartenden juristischen Auseinandersetzungen mit Strafverfolgungsbehörden, geschädigten Aktionären und betrogenen Kunden. Aufsichtsrat und Vorstand des VW-Konzerns setzen seither auf eine Strategie des Verdrängens, Verneinens und Verschiebens. Daran haben die diversen Vorstandswechsel bei VW und ihren Töchtern nichts geändert. Selbst auf die Verhaftung von Audi-Chef Rupert Stadler hat der VW-Aufsichtsrat zunächst mit Abwarten reagiert. Hilflosigkeit? Unvermögen? Taktieren? Von allem etwas! Gehandelt hat man offenkundig erst, als Stadler selbst um Beurlaubung bat. Einmal mehr ist in Wolfsburg juristisches Taktieren und das Schließen der Reihen an die Stelle unternehmerischen Handelns getreten. Fast drei Jahre nach Bekanntwerden des Abgasbetrugs, der in den Entwicklungsabteilungen von Audi ausgeheckt und konzernweit ausgerollt wurde, bestehen das System Volkswagen und damit die eklatanten Defizite in der Corporate Governance des Unternehmens fort. No lessons learned. Wie auch? Die Governance-Defizite sind in den Genen Volkswagens verankert. Da gibt es bis heute einen Friends & Family-Aufsichtsrat, in dem es von Interessenkonflikten nur so strotzt, nicht zuletzt in Person des Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch, der selbst Beschuldigter im Dieselskandal ist. Ein Kontrollgremium, das selbst wenn es wollte, mit der Aufgabe der Beratung und Aufsicht beim weltgrößten Autokonzern hoffnungslos überfordert ist. Das Schlimme daran: Diese Defizite sind nicht neu, sondern wiederholt öffentlich, insbesondere in Reden und Anträgen in Hauptversammlungen, thematisiert worden. Doch das VW-Gesetz, das Interessen- und Machtgeflecht aus den Eigentümerfamilien Porsche und Piëch, dem Land Niedersachsen und dem übermächtigen Betriebsrat wirken wie eine dicke Dämmmatte gegen alle Veränderungsprozesse. Ob Rupert Stadler tatsächlich frühzeitig von den Abgasmanipulationen gewusst hat und des Betrugs schuldig ist, werden Gerichte klären. Unabhängig davon hätte der Aufsichtsrat aber Stadler, der ab 1997 als Leiter des Generalsekretariats beim VW-Vorstandsvorsitzenden, seit 2007 als Audi-Chef und seit 2010 zusätzlich als VW-AG-Vorstand im Machtzentrum des Konzerns saß, mit Bekanntwerden des größten Betrugsfalls in der deutschen Industriegeschichte von seinen Aufgaben entbinden müssen. Ein Vorstandsvorsitzender, der über Jahre hinweg von kriminellen Produktmanipulationen solchen Ausmaßes nichts bemerkt haben will, hat versagt und muss die Verantwortung dafür übernehmen, und zwar unabhängig von strafrechtlichen Verfehlungen. Doch was machte der Aufsichtsrat? Verlängert Stadlers Vertrag 2017 um weitere fünf Jahre, nachdem kurz zuvor die Staatsanwaltschaft die Audi-Zentrale durchsucht hatte. Nicht nur bei den Strafverfolgern musste sich der Eindruck verfestigen, die oberste Führungsebene im VW-Konzern halte sich für immun. Insofern war Stadlers Verhaftung ein Warnschuss, dass sich der Staat nicht länger von den Anwaltsheerscharen aus Wolfsburg vorführen lässt. Der Abgasbetrug von VW, Audi und den anderen deutschen Herstellern hat dem Industriestandort Deutschland und dem Image “Made in Germany” massiv geschadet. Der Umgang damit und die Verschleierungsversuche der verantwortlichen Manager haben die Autobranche als Aushängeschild der Industrienation Deutschland in Misskredit gebracht. Dass VW die Öffentlichkeit, Stakeholder, Politik und Justiz seit Jahren an der Nase herumführen kann, hat das deutsche System der Corporate Governance diskreditiert. Es darf nicht länger sein, dass Aufsichtsräte in eigener Sache über Anforderungen wie Qualifikation und Unabhängigkeit entscheiden und Best Practice schlichtweg ignorieren, weil sie die Kontrolle des Kapitalmarktes nicht fürchten müssen. Es ist Zeit für eine neue Lex Volkswagen: Abschaffung des VW-Gesetzes mit Privatisierung der 20-Prozent-Beteiligung Niedersachsens.—–Von Claus DöringDie Governance-Defizite bei Volkswagen verhindern immer noch die Aufklärung des Abgasbetrugs und die nötigen personellen Konsequenzen. —–