Notiert in Moskau

Paranoide Störung und Tarotkarten

In Zeiten der Krise und Konflikte kommt oft die Logik auf allen Seiten abhanden. In Russland war sie zuvor teilweise auch erst gar nicht gesucht worden.

Paranoide Störung und Tarotkarten

Notiert in Moskau

Paranoide Störung

Von Eduard Steiner

Ein Neologismus und seine Definition fielen mir dieser Tage in die Hände. Nämlich Russophrenie. Angelehnt an die Schizophrenie wird er so definiert: eine paranoide Störung, bei der der Betroffene glaubt, dass Russland sowohl kurz vor dem Zusammenbruch steht als auch gleichzeitig die Welt erobern wird. In der Tat sind im öffentlichen Diskurs über Russland viele Ungereimtheiten bis hin zu Widersprüchen zu beobachten. Einer davon ist der eingangs skizzierte. So wird seit drei Jahren entgegen der Realität wiederholt, dass die russische Wirtschaft wegen der hohen Ausgaben für Rüstung und Krieg sowie der beispiellosen Sanktionen des Westens schwer in Mitleidenschaft gezogen sei und zusammenbrechen werde. Im selben Atemzug wird aber auch vor dem starken und gefährlichen Russland gewarnt, das angeblich früher oder später die Nato angreifen könnte, weshalb Europa angesichts des Rückzuges der Amerikaner aufrüsten müsse.

Kaum jemand wird bestreiten, dass Europa in Sachen Verteidigungspolitik Nachholbedarf hat. Aber dass die Apologeten dieses Kurses als Argument anführen, dass dies der Wirtschaft einen Schub gebe und Innovationen fördere, trägt bereits den nächsten Widerspruch in sich. Denn zum Teil waren es dieselben Personen, die sich noch vor kurzem darüber lustig gemacht haben, dass Russlands Investitionen in jenen Sektor völlig unproduktiv seien.

Blühende Tradition des Aberglaubens

Zurück zu den psychischen Störungen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. In Zeiten der Krise haben Irrationalitäten Konjunktur. In Russland selbst ganz besonders. Denn dort gedeihen diverse Praktiken von Magie, Wahrsagerei, Okkultismus und Schamanentum auf dem fruchtbaren Boden einer blühenden jahrhundertelangen Tradition des Aberglaubens. Über eine Türschwelle hinweg die Hand zur Begrüßung zu schütteln, ist seit jeher ein No-Go, denn das verheißt nichts Gutes. Zu pfeifen ebenso, denn das vertreibt angeblich das Geld. Und bevor man eine Reise antritt, müssen sich alle noch eine Minute ruhig hinsetzen und in sich gehen – dadurch verlaufe die Reise unter einem guten Stern.

In den vergangenen Jahren sind zusätzliche Praktiken populär oder populärer geworden. Und teils zu einem Riesengeschäft. So engagieren Unternehmen Tarot-Berater für diverse Entscheidungen, insbesondere bei der Einstellung neuen Personals: 14% haben das einer Umfrage zufolge schon einmal getan. Das Magazin „Forbes“ berichtet davon, dass zwischen dem ersten Kriegsjahr 2022 und dem Jahr 2024 die Erlöse aus dem Verkauf von Wahrsagekarten um 10 Mill. auf 19 Mill. Euro gestiegen sind. Nur ein kleines Beispiel aus dem Milliardenmarkt für Esoterik. Laut Michail Sygar, einem eingefleischten und nun im Ausland lebenden Oppositionsjournalisten, reicht die Nachfrage nach Schamanen, Astrologen und Magiern bis in die höchsten Schaltstellen des Landes, ja selbst bis zu Wladimir Putin. Der Kremlchef war – aus Überzeugung oder aus Show-Motiven – immer schon nah am Volk.

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