Prinzip Hoffnung
Nun also doch im Alleingang. So lässt sich das abrupte Ende der Gespräche von Thyssenkrupp mit der britischen Liberty Steel über den Verkauf der Stahlsparte auf den ersten Blick interpretieren. Wollte der Traditionskonzern die Entscheidung über das weitere Vorgehen im Stahlgeschäft eigentlich erst im März fällen, wurde vorige Woche der Schlussstrich gezogen, zumindest vorläufig. Alle im Mai aufgezeigten Ideen – von Fusion über Abgabe der Mehrheit bis hin zum Verkauf – haben sich im Laufe des vergangenen Jahres zerschlagen. Da sich abgezeichnet hatte, dass die Taschen der Briten nicht tief genug wären, wurde der viel beschworene Optionenraum im Januar noch flugs um die Variante Spin-off erweitert. Daran arbeitet eine eigens dafür eingerichtete Arbeitsgruppe.
Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass Thyssenkrupp beim Stahl die strategische Kehrtwende vollzieht. Seit dem Versuch zur Jahrtausendwende, den Stahl nach dem Zusammenschluss von Thyssen und Krupp als eigenständige Gesellschaft an die Börse zu führen, gab es mindestens so viele Strategien wie Stahlchefs. Am Ende blieb jedoch immer alles beim Alten. Der Unterschied zu früher ist allerdings, dass es sich Thyssenkrupp heute nicht mehr leisten kann, das Stahlgeschäft aus eigener Kraft zu sanieren. Im volatilen Stahlgeschäft bedeutet Wettbewerbsfähigkeit, über den Konjunkturzyklus hinweg schwarze Zahlen zu schreiben. Dafür wären milliardenschwere Investitionen in Prozesse und klimafreundliche Technologien erforderlich. Milliarden, die Thyssen nicht zur Verfügung stehen.
Dennoch regiert in Essen das Prinzip Hoffnung, das derzeit vom Rückenwind aus dem Markt getragen ist. Ohne konjunkturelle Erholung – diese These scheint nicht allzu gewagt – hätte der Verkaufsprozess womöglich ein anderes Ende gefunden. Doch da es dem Stahl im Auftaktquartal gelungen ist, operativ in die schwarzen Zahlen zurückzukehren, schwindet vordergründig der Druck zum Notverkauf.
Das stößt nicht nur bei der mächtigen IG Metall auf Beifall, die den Vorstoß der britischen Liberty Steel von Beginn an abgelehnt hatte, auch wenn sich die Arbeitnehmer absehbar neuen Forderungen nach Personalabbau gegenübersehen. Auch die beiden Großaktionäre, die Krupp-Stiftung und der Finanzinvestor Cevian, stützen die Vorstandsentscheidung. Zum Schleuderpreis, so die einhellige Meinung, sollte das Stahlgeschäft nicht verhökert werden. Zumal die Stahlwerke in Übersee in der Rückschau deutlich unter Wert losgeschlagen wurden.
Allerdings herrscht im Eigentümerkreis und an der Vorstandsspitze wohl auch Einigkeit darüber, dass die Zukunft von Steel Europe eben nicht in der Eigenständigkeit liegen kann, auch wenn das für Nostalgiker und Traditionalisten schwer zu akzeptieren ist. Dass über kurz oder lang ein nachgebessertes Angebot von Liberty Steel auf Wiedervorlage kommt, scheint dabei keineswegs Wunschdenken. Zumal der britisch-indische Familienkonzern selbst erklärt hat, sich zu bemühen, die Bewertungslücke zu gegebener Zeit zu schließen.
An das Prinzip Hoffnung klammert sich Thyssenkrupp aber auch mit Blick auf die milliardenschweren Förderzuschüsse, welche die Bundesregierung im Handlungskonzept Stahl für Projekte zur Dekarbonisierung der Stahlerzeugung in Aussicht gestellt hat. Stand heute ist das zwar noch nicht mehr als ein Strohhalm, nach diesem wird jedoch bereitwillig gegriffen. Die im vorigen Herbst diskutierten Hilfen aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds hat der Vorstand dagegen aus finanziellen Erwägungen erst gar nicht beantragt. Schlicht zu hoch war die Verzinsung für die Beteiligung des Staates an Steel Europe. Die Großaktionäre Cevian und Krupp-Stiftung fallen dagegen als Finanzierer letzter Instanz aus – der Finanzinvestor, weil er nicht länger gewillt ist, gutes Geld schlechtem hinterherzuwerfen, die Krupp-Stiftung, weil sie aufgrund des wiederholten Dividendenausfalls von Thyssenkrupp selbst in finanziellen Nöten steckt.
Im Wettlauf gegen die Zeit tickt die Uhr. Und auch wenn Thyssenkrupp die Sanierung des Stahlgeschäfts im Alleingang nicht stemmen kann, so muss mit den verfügbaren Mitteln, so gut es geht, an der Wettbewerbsfähigkeit gearbeitet werden. Nur dann sind Spin-off oder Verkauf zu akzeptablen Bedingungen mehr als Gedankenspiele. Ansonsten bleibt nur die Erkenntnis, dass sich eine Branche auch mit dem Ausscheiden einzelner Wettbewerber aus dem Markt konsolidiert.