Proteinshake fürs Gehirn
Notiert in London
Proteinshake fürs Gehirn
Von Andreas Hippin
Wer in London unterwegs ist, bekommt eine Vielzahl von Gratiszeitungen in die Hände gedrückt. Die Pandemie hätte ihnen fast den Garaus gemacht, doch die Eigentümer haben meist tiefe Taschen. „Metro“ hat die größte Auflage und gehört dem Daily Mail & General Trust, der Muttergesellschaft der „Daily Mail“. Hinter dem „Evening Standard“ steht Jewgeni Lebedew, der Sohn des russischen Oligarchen Alexander Lebedew. „City AM“ hatte dagegen nicht so zahlungskräftige Eigner und stand deshalb im Frühsommer vor dem Aus. Das Arbeiten von zuhause und wütende Streiks im öffentlichen Nahverkehr hatten dafür gesorgt, dass weniger Pendler unterwegs waren. Mitgründer Lawson Muncaster und CEO Jens Thorpe gehörten je 25%, der Rest lag bei niederländischen Investoren. Die Freitagsausgabe wurde eingestellt, weil zu viele potenzielle Leser im Homeoffice saßen. Am Ende war das Blatt zahlungsunfähig. Matt Moulding, der Gründer des E-Commerce-Konglomerats THG (The Hut Group), erwarb es schließlich in letzter Minute aus der Insolvenz – einer der ungewöhnlichsten M&A-Deals des Jahres in der britischen Einzelhandelsbranche. Damit war der Fortbestand gesichert. Muncaster sprach von einem „Perfect Fit“, obwohl Moulding als Betreiber eines Online-Vertriebs für Proteinshakes und Schminke über keine Erfahrung im Verlagsgeschäft verfügt.
Seit 18 Jahren liefert „City AM“ all denen eine Alternative, die sich für die City und Finanzmärkte interessieren, sich aber in der „Financial Times“ (FT) entweder inhaltlich nicht wiederfinden oder den für die lachsfarbenen Seiten geforderten Preis nicht zahlen wollen. Die Zeitung hat um die 40 Mitarbeiter und wird an rund 400 Verkehrsknotenpunkten und Pendlerbahnhöfen und 1.600 Büros verteilt. Die gedruckte Auflage liegt etwas unter 70.000. Die Website verzeichnet monatlich 1,8 bis 2,0 Millionen Besucher. Plädoyers für eine stärkere Regulierung der City wird man in „City AM“ vergebens suchen. Muncaster zufolge verfolgt die Zeitung einen wirtschaftsfreundlichen, libertären Kurs. Man darf gespannt sein, wohin die Reise für das Gratisblatt nun geht. Denn Moulding hatte nach Shortseller-Attacken auf sein Unternehmen schwere Vorwürfe gegen Medien erhoben. „Leider ist es für einige wenige Auserwählte in der Welt der Hedgefonds, Medien und Bankanalysten zur Standardpraxis geworden, eine negative Berichterstattung gegen britische börsennotierte Firmen aufzubauen, auch gegen THG“, schrieb er damals auf Twitter. Dabei gehe es darum, auf sinkende Kurse zu wetten und alles dafür zu tun, Unternehmen zu diskreditieren. Je aggressiver die Behauptungen, desto größter die Wirkung auf den Kurs. Vor diesem Hintergrund sollte man nicht erwarten, dass sich „City AM“ in Zukunft einem Verbot von Leerverkäufen entgegenstellen wird. Die redaktionelle Unabhängigkeit dürfte gleichwohl erhalten bleiben. Für Moulding ist das Blatt ein guter Weg, um seine Produktpalette gut verdienenden City-Mitarbeitern anzudienen. Er hat angeblich in neues Equipment investiert, zudem wurden neue Stellen ausgeschrieben. Wie der „Telegraph“ berichtet, will THG auch ihre digitale Expertise nutzen, um im kommenden Monat eine neue “City AM“-App an den Start zu bringen. Der konservativen Tageszeitung zufolge hat das Blatt neben HMRC interessante Gläubiger wie das schottische Restaurant Boisdale, wo es eine Krypto-Sommerparty veranstaltete, die mit 36.000 Pfund zu Buche schlug. Zudem hätten dort auch die Weihnachtsfeiern der Zeitung stattgefunden. Der ehemalige COO der Zeitung, Harry Owen, sei nun Executive Director von Boisdale.
Für die Medienvielfalt ist es eine gute Sache, dass der Besitzer von Marken wie Cult Beauty und Look Fantastic die kleine Finanzzeitung vor dem Untergang bewahrt hat. Moulding kann sie als Proteinshake fürs Gehirn in sein Portfolio eingliedern. Die leidgeprüften Anteilseigner von THG dürften sich fragen, was ihm als Nächstes einfällt. Man mag impulsive Unternehmertypen wie ihn ja bewundern, doch Aktionäre wünschen sich meist auch Berechenbarkeit.