Notiert inSchanghai

Rein ins blinde Kaufvergnügen

In China läuft das Geschäft mit Plastikfigürchen in der „Blind Box“ auf immer höheren Touren. Was wie Kinderkram anmutet, begeistert vor allem Erwachsene.

Rein ins blinde Kaufvergnügen

Notiert in Schanghai

Rein ins blinde Kaufvergnügen

Von Norbert Hellmann

Hurra, hurra, bei Pop Mart gibt es nun erstmals auch Disney-Figuren im Angebot! Pop Mart ist Chinas führender Player in der stark expandierenden Blind-Box-Branche. Es geht um sammelbare Figuren und anderen Schnickschnack in Wundertütenverpackung. Random-Draw-Marketing nennt man das in der Fachsprache. Man kauft eine „blinde Schachtel“, deren genauer Inhalt nicht einsehbar ist, und baut darauf eine Kollektion auf. Die lässt sich nur vervollständigen, wenn man das Glück hat, auf seltene Figuren zu stoßen, deren Knappheitsgrad sie zum Sammler- und Tauschobjekt macht.

Enthusiasmus mit Nebenwirkungen

Über dem Ganzen weht ein Hauch von Sammlerinstinkt, Lotteriegefühl, Überraschungseffekt und Schatztruhen-Erlebnis. Das sagen zumindest die Enthusiasten. Andere verweisen lieber auf hässliche Nebenwirkungen, angefangen bei purer Geldverschwendung, Enttäuschung über Losnieten und keineswegs zu verniedlichender Suchtgefahr. Serientäter-Käufe drohen schmaleren Geldbeuteln heftig zuzusetzen und rufen längst chinesische Regulatoren auf den Plan. Es gilt, ausbeuterische Geschäftsmodelle in einem Marktsegment zu zügeln, das auf über 30 Mrd. Yuan (rd. 4 Mrd. Euro) Jahresumsatz angeschwollen ist.  

Generation Z am Drücker

Konsumforscher sehen in dem Ganzen ein Paradebeispiel für postpandemisches Verbraucherverhalten der viel beschworenen Generation Z, die in China langsam das Zepter übernimmt. Da wird erstaunlich viel Geld in Billigwaren gesteckt, die bei gedrückter Wirtschaftsstimmung durch die Aura des Mysteriösen Konsumentenneugierde wecken und kleine heitere Akzente in den Alltag bringen sollen. Dafür gibt es gar eine einleuchtende biochemische Erklärung. Wenn das menschliche Gehirn auf eine freudige Überraschung trifft, wird Dopamin freigesetzt, das sich mit positiven Gefühlen und in der Regel einem Verlangen nach Wiederholung des Ereignisses verbindet.

Kein bisschen peinlich?

Bleibt noch zu erforschen, warum die neue Begeisterung sich an Plastikfigürchen entzündet, die Vorgängergenerationen spätestens ab dem Alter von 14 Jahren Peinlichkeitsschüben ausgesetzt hätten. In China ist die wichtigste Zielgruppe keineswegs in frühen Jahren zu verorten. Vielmehr sind es zumindest auf dem Papier „gestandene Erwachsene“ zwischen 20 und 30, die schamfrei dem Dopaminrausch der Blind Box verfallen sind.

Füllkrug im Portefeuille

Die Sache scheint übrigens Schule zu machen. In diesem Jahr hat Pop Mart die ersten europäischen Läden eröffnet und sieht gewaltiges Potenzial. Chinesische Konsumkindlichkeit findet globale Resonanz. Sicherlich eine gute Nachricht für alle, die sich anlässlich der Fußball-EM 2024 zu einer alten Errungenschaft des Random-Draw-Marketing bekennen, nämlich Sammelalben mit Fußballer-Abziehbildchen. Wer in letzter Zeit wie blöd Tütchen mit Stickern gekauft hat, um endlich auf das Antlitz von Joshua Kimmich oder Niclas Füllkrug zu stoßen, muss sich − egal welchen Alters − wohl kein bisschen mehr schämen.

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