Schanghai

Rindsäugig zum Neujahr

Das chinesische Neujahrsfest ist etwas ganz besonderes, sozusagen eine Wissenschaft für sich. Angefangen von der Terminierung über die Namensgebung hin zu den reisenden Menschenmassen.

Rindsäugig zum Neujahr

Das chinesische Neujahrsfest ist etwas ganz Besonderes, sozusagen eine Wissenschaft für sich. Das fängt schon mit der Termingestaltung an, die dem für Nichtchinesen nur schwer durchschaubaren Mondkalender gehorcht. Der bringt es nur auf 360 Tage im Jahr, bekommt aber ab und zu einen Schaltmonat verpasst. Damit lässt es sich dann besser in Reih und Glied mit dem westlichen Kalender mitmarschieren. Eine Fluktuation des Datums fürs Neujahrsfest lässt sich damit aber nicht verhindern.

Die Chose findet irgendwann im Januar oder Februar statt und wird verwirrenderweise „Chun Jie“ (Frühlingsfest) genannt. Der Mondkalender nämlich kennt insgesamt 24 zweiwöchige Solarperioden, an die sich, einem Bauernkalender entsprechend, bestimmte Bräuche und landwirtschaftliche Verrichtungen knüpfen. Mag es in den meisten Gegenden im Reich der Mitte noch lausig kalt sein, offiziell ist trotzdem bereits der agrarische Frühling angebrochen. Wie gesagt, alles ein bisschen kompliziert.

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In gewisser Weise gilt das auch für die berühmte Tierkreiszeichensystematik des chinesischen Kalenders, die in manchen Jahren mit Übersetzungstücken daherkommt. Am Freitag bricht „Niu Nian“ an, das Jahr des… ja was? Manche sagen Jahr der Kuh, manche des Ochsen, andere wieder des Büffels und die etwas unentschlosseneren sprechen vom Jahr des Rindes. Alle haben sie irgendwie recht, weil es im Chinesischen nur ein Wort gibt, das alles abdeckt, was ständig wiederkäut, eine Haut hat, die man bestens zu Leder verarbeiten kann, und mit einem scheinbar abwesenden Blick vor sich hin stiert.

Die pragmatischen Angelsachsen haben sich für „Year of the Ox“, also den Ochsen entschieden, aber Chinesen stehen erst gar nicht vor der Frage einer Festlegung nach Geschlecht oder gar Kastrations­zustand. Unter Niu darf sich jeder vorstellen, was er mag. Die zahllosen neujahrsgerechten Stofftier-, Schmuck- oder Dekorationsmotive reichen denn auch vom zarten Kälbchen bis zum wütend schnaubenden Stier. Ähnliches gilt übrigens für die in Kürze ablaufende Tierkreiszeichenperiode, im Chinesischen „Shu Nian“ genannt. Das kann genauso gut Jahr der niedlichen Maus wie auch der hässlichen Ratte bedeuten. In gewisser Weise freilich hat die Corona-Pandemie hier ein Machtwort gesprochen. Angesichts der Virenpest kann es sich ja wohl nur um ein Rattenjahr gehandelt haben.

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Diesmal ist am 12. Februar Neujahrstag. Worauf es aber wirklich ankommt, ist der Vorabend – Silvester sozusagen. Von der Bedeutungsschwere und dem inbrünstigen Feierlichkeitsgefühl her gesehen muss man jedoch eher den Vergleich mit Heiligabend ziehen. Es handelt sich nun einmal um den einen Tag im Jahr, an dem es besonders wichtig ist, im trauten Familienkreis zusammenzukommen.

Als wichtigste traditionelle Verrichtung geht es in China darum, alles rauszuhauen, was die Haushaltskasse hergibt, um beim „Nianyefan“ genannten Festmahl hemmungslos schlemmen zu können. Dabei darf ruhig – nein, sollte sogar der Fernseher laufen. Es gilt das wichtigste Neujahrsritual der Neuzeit nicht zu verpassen, nämlich „Chunwan“, die vierstündige in den Jahresend-Countdown hineinführende TV-Gala des Staatssenders CCTV. Sie kommt auf ähnlich hohe Einschaltquoten wie das Superbowl-Spektakel in den USA und liefert damit auch die teuersten und prestigereichsten Werbe-Slots in Chinas Medienwelt.

Dieses Jahr dürften besonders viele Chinesen in ungewöhnlich kleinem Kreis vor der Glotze hängen, denn die Coronazahlen sind jüngst in einigen Großstädten wieder in die Höhe geschossen. Dies hat den Staatsapparat zu einer vehementen Reisewarnungskampagne für die einwöchige Feiertagspause animiert. Die jährlich weltgrößte Menschenmassenbewegung mit der Rückkehr Hunderter Millionen von Wanderarbeitern in ihre ländliche Heimat fällt damit weitgehend flach. Und wie hat Chinas Bevölkerung die Restriktionen verarbeitet? Genauso wie es der Tierzeichenkalender diesmal vorschreibt: nämlich mit der Fügsamkeit eines Pflugochsen.