LeitartikelEU-Fiskalregeln

Schattenboxen um Europas Schuldenpakt

Die Finanzmärkte erwarten bis Ende des Jahres ein Signal der Klarheit, wie es mit den EU-Fiskalregeln weitergeht. Eine rechtzeitige Einigung wird immer unwahrscheinlicher.

Schattenboxen um Europas Schuldenpakt

EU-Fiskalregeln

Schattenboxen um den Schuldenpakt

Die Finanzmärkte erwarten bis Ende des Jahres ein Signal der Klarheit, wie es mit den EU-Fiskalregeln weitergeht. Eine rechtzeitige Einigung wird immer unwahrscheinlicher.

Von Stefan Reccius

Aus der Auseinandersetzung um die künftigen Fiskalregeln in der Europäischen Union ist ein politisches Schattenboxen ohne erkennbare Fortschritte geworden. Noch immer wagt sich keiner der Beteiligten aus der Deckung. Dabei läuft zum Jahreswechsel die Schuldenschonfrist ab: Ab Januar 2024 wird der reformbedürftige Stabilitäts- und Wachstumspakt wieder vollumfänglich greifen – vier Jahre nachdem die EU-Kommission wegen der Pandemie die Ausweichklausel gezogen hat.

Die Finanzmärkte erwarten ein Signal der Klarheit, wie die Brüsseler Behörde und die 27 Mitgliedstaaten mit den teils chronisch überhöhten Schuldenständen umzugehen gedenken. Gemessen an dieser Erwartungshaltung ist das Ergebnis der informellen Beratungen der Finanzminister (Ecofin) in Santiago de Compostela eine Enttäuschung: Die dringliche Reform der Fiskalregeln kommt nicht voran.

Deutschland gegen Frankreich

Das ist wesentlich auf eine klassische Lagerbildung zurückzuführen. Beide Lager sind in etwa gleich groß: Bundesfinanzminister Christian Lindner weiß Österreich, die Niederlande und knapp ein Dutzend weiterer Kollegen aus Skandinavien, dem Baltikum und Teilen Mittelosteuropas hinter sich. In der gegenüberliegenden Ringecke haben sich Italien, Spanien und etliche andere überwiegend aus Europas Süden hinter Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire versammelt.

Wie viel Flexibilität für strategische Investitionen darf sein, wie viel Schuldenabbau muss sein? Das ist die zentrale Konfliktlinie zwischen den beiden Lagern. Die Auseinandersetzung über den Stellenwert solider Staatsfinanzen mag nicht mehr mit der erbitterten Schärfe früherer Jahre geführt werden. Doch die grundlegend unterschiedlichen Perspektiven auf das Wesen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes machen eine Einigung so schwierig.

Goldene Regel vom Tisch

Immerhin in einer Sache sind die deutsche und die französische Regierung sich glücklicherweise einig: Eine aus Italien erwünschte Goldene Regel, wonach eine bestimmte Sorte von Staatsausgaben pauschal von der Defizitberechnung ausgeklammert wird, kann keine glaubwürdige Lösung sein. Ansonsten sind inhaltlich leider keinerlei neuen Erkenntnisse zu verzeichnen, was die Zeitnot für Verhandlungen umso deutlicher werden lässt.

Lindner zieht sich auf seine Vorschläge aus dem Frühjahr zurück und wartet darauf, dass sich die Gegenseite auf ihn zubewegt. Die deutsche Formel kappt insbesondere das Wachstum der Staatsausgaben, und zwar Jahr für Jahr. Das würde den Spielraum der EU-Kommission eingrenzen, Land für Land einzeln maßgeschneiderte Pläne zum Schuldenabbau über mehrere Jahre zu vereinbaren.

Le Maire will mehr Freiraum für staatliche Investitionen schaffen, indem manche dieser Investitionen nicht aufs Haushaltsdefizit angerechnet werden. In den allgemeinen Fokus gerückt sind die Verteidigungsausgaben. Aber natürlich geht es auch um die Klassiker grüne und digitale Transformation der Wirtschaft. Le Maire scheut allerdings die offene inhaltliche Auseinandersetzung und versteckt sich noch zu sehr hinter Allgemeinplätzen.

Verhandlungsführerin Nadia Calviño aus Spanien – selbst nicht gerade neutral – hat ihren Kollegen in Santiago de Compostela Fristen gesetzt, an die sie selbst kaum glauben dürfte: Die für Oktober eingeforderte politische Einigung über die zentralen Streitpunkte erfordert sehr viel Fantasie. Und selbst wenn im November Verhandlungen mit dem EU-Parlament beginnen können, mutet eine Einigung in diesem Jahr utopisch an.

Auf dem Gebiet der Kapitalmarktunion haben Lindner und Le Maire mit einer gemeinsamen Roadmap gezeigt, wie es vorangehen kann. Auch hinter dem Anti-Dumping-Verfahren gegen Chinas Elektroautos stehen Berlin wie Paris, obwohl dieses französische Anliegen in der deutschen Autoindustrie schlecht ankommt. Ein politischer Schulterschluss wäre beim Stabilitäts- und Wachstumspakt umso nötiger. Nur hört die deutsch-französische Eintracht dort auf, wo die Reform der Fiskalregeln anfängt.

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