Scholz nimmt Habeck aus der Schusslinie
„Weil Habeck nicht mehr weiterweiß, gründ’ ich jetzt selbst ’nen Arbeitskreis“, wird sich Bundeskanzler Olaf Scholz wohl gedacht haben, als er am Donnerstag eine neue Expertenkommission ankündigte, die Vorschläge zur Begrenzung der hohen Wärme- und Gaskosten vorlegen soll (vgl. BZ vom 16. September). Die Besetzung der Kommission lässt aufhorchen. Geleitet wird sie von der Energieexpertin Veronika Grimm, die sich als Wirtschaftsweise sehr kritisch zu den Reservebetriebsplänen von Wirtschaftsminister Robert Habeck für zwei deutsche Atomkraftwerke geäußert hat. Flankiert werden soll Grimm von BDI-Präsident Siegfried Russwurm und Michael Vassiliadis, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (BCE) – zwei mächtigen Vertretern aus der Industrie. Der Expertenkommission gehören außerdem die CEO von Eon und RWE, Leonhard Birnbaum und Markus Krebber, an sowie hochkarätige Wissenschaftler und Vertreter wichtiger gesellschaftlicher Gruppen, von Umweltverbänden bis hin zu Mieterbund und Caritas.
Was zunächst wie „ein Arbeitskreis mehr“ und ein Ablenkungsmanöver aussieht, zumal die Ampel-Koalition bisher auf die Empfehlungen etablierter Beratungsgremien wie den wissenschaftlichen Beiräten des Wirtschafts- und des Finanzministeriums sowie des Sachverständigenrats kaum gehört hat, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als kluger Schachzug. Denn die breite gesellschaftliche Vertretung in der Kommission wie auch die Führung durch mächtige Interessenvertreter aus der Industrie und der „neutrale“ Vorsitz einer anerkannten Wissenschaftlerin lassen hoffen, dass die bis Ende Oktober erwarteten Vorschläge Aussicht auf Umsetzung haben.
Irrsinnige AKW-Reserve
Auch wenn Kanzler Scholz damit dem Bundeswirtschaftsministerium faktisch Kompetenzen entzieht, dürfte Habeck insgeheim erleichtert sein. Denn nach den Prügel, die er für seine vermurksten Gasumlagepläne und sein Votum für den Weiterbetrieb von zwei AKW als „Reserve“ von seiner Partei, aber in Gestalt sinkender Umfragewerte auch von den Bürgern einstecken musste, wird er nunmehr aus der Schusslinie genommen. Er muss nicht mehr vorschlagen, was er aufgrund der Fakten vorschlagen müsste, es aber aufgrund der Parteiräson und der anstehenden Landtagswahl in Niedersachsen nicht vorschlagen kann. Dass die Leitung der Expertenkommission nicht nur für einen betriebswirtschaftlich und energiepolitisch irrsinnigen Reservebetrieb, sondern angesichts der Energieknappheit im Winter mindestens für einen Weiterbetrieb aller drei AKW als Streckbetrieb plädieren dürfte, scheint angesichts der Relevanz für Industrieproduktion, Arbeitsplätze und warme Wohnungen sehr wahrscheinlich. Dass die Bundesregierung nicht einfach an Markteingriffe und Preisdeckel denkt, lässt die starke Repräsentanz betroffener gesellschaftlicher Gruppen in der Kommission vermuten.
Die zielgerichtete Entlastung von Menschen mit geringen und niedrigen mittleren Einkommen haben übrigens gerade erst die neu formierten Fünf Weisen in einem Zeitungsartikel gefordert, deren Mitglied Veronika Grimm auch das neue Expertengremium der Bundesregierung leitet. So befürwortet der Sachverständigenrat die Ausweitung des Wohngelds und die zusätzliche Heizkostenpauschale, wünscht sich aber bei weiteren notwendigen und möglichst schnell umzusetzenden Maßnahmen, dass dadurch Preissignale nicht konterkariert werden. Allgemeine Preisdeckel, ob für Strom, Gas oder Wärme, würden genau dies zur Folge haben.
Kein Bail-out Europas
Im Fokus nicht nur der Experten, sondern auch der Bundesregierung und der EU-Kommission stehen aktuell der Gasverbrauch und dessen Reduzierung bei privaten Verbrauchern und bei den Unternehmen. Die gute Nachricht: Die Gasspeicher weisen aktuell Füllstände über Plan aus, so in der EU über 84% und in Deutschland sogar 88,5%. Die schlechte Nachricht: Selbst wenn Deutschland bis zum 1. November das Ziel von 95% Füllstand erreicht, kommt es damit trotz der zusätzlich vereinbarten Importe nur sicher über den Winter, wenn parallel 20% eingespart werden. Während die jüngsten Verbrauchszahlen signalisieren, dass die Industrie gut unterwegs ist und in den Monaten Juli und August das Einsparziel von 20% schon erreicht wurde, hinken die privaten Haushalte noch sehr hinterher. Deshalb sind hohe Preise als Sparanreiz weiter nötig, zumal der Gaspreis sich nach den extremen Preissprüngen jüngst aufgrund gut gefüllter Lager bei etwa 200 Euro je Megawattstunde (MWh) eingependelt hat. Diese Größe war ursprünglich ja beim Gaspreisdeckel in der Diskussion.
Dass LNG alsbald die Lücke füllen kann, die vom ausbleibenden russischen Erdgas gerissen wird, bleibt ein frommer Wunsch. Jedenfalls für diesen Winter. Seine Erfüllung wird auch dadurch nicht wahrscheinlicher, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen so gerne davon spricht, wie zuletzt am Mittwoch in ihrer Rede zur Lage der Union: „Statt auf Russland setzen wir nun auf verlässliche Lieferanten – die USA, Norwegen, Algerien und andere.“
Beinahe zeitgleich haben nämlich die US-Produzenten verkündet, dass sie jetzt schon nahe des Maximums fördern und einen „Bail-out“ Europas nicht leisten können, weder beim Öl noch beim Gas. Erschöpft sind Branchenexperten zufolge auch die Transportkapazitäten für LNG, zumal LNG-Schiffe in Erwartung wieder steigender Preise zunehmend als schwimmende Zwischenlager genutzt werden. Und Norwegen nutzt die Kapazität der drei Gas-Pipelines nach Deutschland in Dimension von Nordstream 1 bereits bis zum Anschlag. Das sind die Fakten. Aber manchmal werden Wahrheiten leichter akzeptiert, wenn sie aus Experten- statt aus Politikermund kommen.
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