Im BlickfeldKartellstrafen

Schonzeit für Kartellsünder

Die Summe der EU-Kartellstrafen ist 2023 so niedrig wie seit vielen Jahren nicht mehr. Daraus abzuleiten, dass in Europa tätige Unternehmen heute weniger Preise absprechen als früher, dürfte sich indes als Trugschluss erweisen.

Schonzeit für Kartellsünder

Schonzeit für Kartellsünder

Von Detlef Fechtner, Frankfurt

Die Summe der EU-Kartellstrafen im bisherigen Verlauf 2023 ist so niedrig wie seit vielen Jahren nicht mehr. Daraus abzuleiten, dass in Europa tätige Unternehmen heute weniger Preise absprechen als früher, dürfte sich indes als Trugschluss erweisen.

Die niederländische Rabobank wurde zu einer Buße von 26,6 Mill. Euro verdonnert, weil sie sich an einer Absprache über den Handel von Euro-Bonds mit anderen Finanzhäusern beteiligt hat. Boehringer und fünf andere Pharmafirmen müssen 13,4 Mill. Euro berappen, weil sie durch konzertiertes Vorgehen den Preis eines Wirkstoffs für ein krampflösendes Mittel für Unterleibsbeschwerden in die Höhe getrieben haben. Und die Rüstungsfirma Diehl erhielt eine Bußgeldrechnung über 1,2 Mill. Euro ins Haus, weil sie unlautere Verabredungen mit Konkurrent Ruag über den Verkauf von Handgranaten getroffen hatte. Aus kartellrechtlicher Sicht war es das aber dann auch schon für 2023. Auf gerade einmal 41,2 Mill. Euro addieren sich im laufenden Jahr die von der EU-Kommission festgesetzten Bußgelder. Damit liegen die Kartellstrafen 2023 nur bei einem Bruchteil dessen, was in den zurückliegenden 20 Jahren üblich gewesen ist. Denn im rechnerischen Durchschnitt ergibt sich seit 2000 eine Strafsumme von mehr als 1,3 Mrd. Euro pro Jahr.

Unter Experten herrscht in einem Punkt Einvernehmen: Die Hoffnung, dass in den in Europa tätigen Unternehmen ein Sinneswandel stattgefunden hat und niemand mehr auf die Idee kommt, wettbewerbswidrige Absprachen mit Konkurrenten zu treffen, dürfte sich spätestens in ein bis zwei Jahren als naive Hoffnung entpuppen. Denn dann wird wieder mit mehr und höheren Geldbußen gerechnet.

Quasi ein 'long Covid'-Effekt

Kartellrechtsanwälte verweisen zur Begründung für die 2023 recht kleine Strafsumme vielmehr auf Corona. "Die im Vergleich zu den Vorjahren niedrige Gesamtsumme an Kartellstrafen ist unter anderem eine Folge der Tatsache, dass 2020 pandemiebedingt weniger Durchsuchungen stattgefunden haben", erklärt Carsten Grave, Partner bei Linklaters. Insofern sei die niedrige Zahl an Kartellentscheidungen in diesem Jahr auch eine Nachwirkung der Pandemie – "wenn Sie so wollen ein 'long Covid'-Effekt. René Grafunder, Partner der Kanzlei Dentons, argumentiert in die gleiche Richtung. "Fast zwei Jahre lang gab es pandemiebedingt kaum Durchsuchungen und nur wenig Präsenztreffen mit der Behörde, die den Abschluss von Verfahren häufig befördern", erläutert Grafunder. Das mache sich nun bemerkbar. Aktuell sei allerdings wieder eine verstärkte Aktivität der EU-Wettbewerbsbehörde zu beobachten, "was sich dann aber erst in einigen Jahren in den Statistiken zeigen wird."

Der Dentons-Anwalt spielt darauf an, dass die EU-Kommission 2023 eine ganze Reihe von Untersuchungen gestartet hat. Die Pipeline potenzieller Strafen wegen Preis- und Konditionenabsprache oder der systematischen Aufteilung von Vertriebsgebieten ist wieder gefüllt. Derzeit müssen Hersteller von Autobatterien ebenso wie große Online-Essenslieferdienste oder auch Produzenten von chemischen Zusatzstoffen und Anbieter von Kunstrasen bangen, denn die EU-Kommission hat Untersuchungen eingeleitet – und für Duftstoffe und Mode ebenfalls. Eine Sprecherin der EU-Kommission erinnert zudem an laufende Verfahren gegen Zuchtfarmen für Atlantiklachs oder Recycling-Dienstleister in der Gebrauchtwagenbranche. Die Behördensprecherin betont in diesem Zusammenhang, dass die EU-Kommission 2023 erstmals Entscheidungen in der Verteidigungsbranche und in der Arzneimittelproduktion gefällt und darüber hinaus ihren Instrumentenkasten dahingehend ausgebaut habe, dass sie ganz verschiedene Formen von Kartellverfahren unter die Lupe nehme. Mit Blick auf die niedrige Strafsumme tritt die EU-Kommission Vorwürfen entgegen, sie gehe nur halbherzig gegen Kartelle vor. Brüssel verfolge "einen Null-Toleranz-Ansatz gegenüber Kartellen" und strebe an, Fälle unabhängig von deren Umfang zu verfolgen. In diesem Jahr spiegele die niedrige Gesamtgeldbuße lediglich die begrenzte Zahl der Kartellanten und einen geringen Umsatzwert wider.

Weniger Kronzeugenanträge

Peter Giese, auf deutsches und europäisches Kartellrecht spezialisierter Rechtsanwalt bei CMS Deutschland, bringt als weiteren Grund für die niedrige Strafsumme ins Spiel, dass Unternehmen seltener als früher von der Kronzeugenregelung Gebrauch machen, also ein Kartell gegenüber den EU-Beamten offenlegen, um im Gegenzug Straffreiheit gewährt zu bekommen. Auch wenn es in Deutschland in allerjüngster Vergangenheit wieder einen gegenläufigen Trend gab, so unterstreicht Giese, dass die Zahl der Kronzeugenanträge heute deutlich niedriger als vor einigen Jahren liege. Inwieweit diese Entwicklung ihre Ursache darin habe, dass die kartellrechtlichen Schadenersatzklagen rasant zugenommen haben, sei umstritten. "Aber sicherlich überlegen sich heute Geschäftsführer von Unternehmen doppelt, ob sie ein Kartell anzeigen, denn trotz der Befreiung von der Geldbuße kann sich das Unternehmen anschließend mit hohen zivilrechtlichen Schadenersatzforderungen konfrontiert sehen", sagt Giese. Linklaters-Partner Grave weist darauf hin, dass die Entscheidung der EU-Kommission im Lkw-Kartell "in der Rückschau insofern einen Wendepunkt darstellt, als diesem Brüsseler Beschluss eine große Zahl an Schadenersatzklagen folgten."

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