Notiert in Brüssel

Sex und Faschismus

Niemand hört der Moderatorin zu. Dann sagt sie drei Worte. Und alle im Saal sind auf einmal aufmerksam.

Sex und Faschismus

Notiert in Brüssel

Sex und Faschismus

Von Detlef Fechtner

Die Moderatorin war nicht zu beneiden. Sie hatte zunächst geduldig abgewartet, bis sich die Konferenzteilnehmer nach der Pause wieder langsam in Richtung ihrer Plätze bewegten. Dann hatte sie mit den Fingern aus Mikrofon geklopft, sich geräuspert. Doch während einige ihr Pausengespräch fortsetzten, vertieften sich andere in ihre Smartphones. Von Aufmerksamkeit für das, was auf der Bühne stattfand, keine Rede.

„Sex und Faschismus“. Jäh stoppte jedes Gespräch, wandten sich alle neugierig der Moderatorin zu, die in Nanosekunden das volle Interesse auf sich gelenkt hatte, indem sie lediglich drei Worte ins Mikrofon sprach – um im nächsten Augenblick klarzustellen: „Das hat nicht das Geringste mit dem zu tun, was ich hier in der nächsten Stunde mit meinen Podiumsgästen diskutieren möchte, aber ich wollte mich zunächst ihrer ganzen Aufmerksamkeit versichern.“

Leider hat sich längst noch nicht überall in Brüssel die Einsicht durchgesetzt, dass man Neugier wecken muss, um Zuschauer zu mobilisieren. Dabei ist Brüssel ja nicht nur Hauptstadt Europas, sondern auch Hauptstadt der Abendveranstaltungen. Es gibt so viele, dass man sich mühelos über Monate von einem Empfang zum nächsten durchverpflegen könnte. Aber: Wen von Ihnen – leckere Häppchen hin oder her – reizt es, an einer Veranstaltung unter dem Motto „Quo vadis, EU?“ teilzunehmen? Oder unter dem Titel: „Binnenmarkt – Herausforderungen und Chancen“.

Vorsichtige Modernisierung

Immerhin: Vielfach wurden Veranstaltungsformate mittlerweile behutsam modernisiert. Für die Keynote sind heute 15 statt 45 Minuten üblich, wodurch das Risiko sinkt, dass der Hauptgeschäftsführer den ganzen Saal ins Wachkoma redet. Auch sind erfreulicherweise Panel-Veranstaltungen selten geworden, bei denen „leider keine Zeit für Fragen aus dem Publikum bleibt“. Obwohl man sich fragt, warum – wenn doch die Zeit so knapp ist – die Akteure auf der Bühne so viele Antworten auf Fragen gegeben haben, die ihnen gar nicht gestellt wurden.

Wenig verändert hat sich daran, dass die Ankündigung, das Publikum dürfe sich „auf eine kontroverse, ja vielleicht sogar hitzige Debatte“ freuen, meist bloßer Hoffnungswert bleibt. Eine solche Ansage ist allerdings auch unrealistisch, wenn der Veranstalter vier Unternehmer und einen Liberalen eingeladen hat, um über Bürokratieabbau zu diskutieren. Worüber sollten die sich da uneins sein?

Aber: Es gibt sie auch in Brüssel, die spannenden und interaktiven Veranstaltungen: nicht nur vor dem Publikum, sondern mit dem Publikum. Tapfere Veranstalter erlauben den Gästen längst, sich stets und ständig in die Debatte einzumischen, in dem sie Fragen oder Anmerkungen per Smartphone auf Bildschirme senden und mit kecken Interventionen („Da kenne ich aber ganz andere Zahlen!“) den Austausch auf der Bühne befeuern. Schließlich misst sich die Qualität einer Veranstaltung schon lange nicht mehr daran, wen die Einladenden fürs Podium gewinnen konnten. Sondern für den Zuschauerraum.

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