Gesundheitswesen

Showdown im OP: Das Chaos im britischen Gesundheitswesen

Der britische National Health Service ist im 75. Jahr seines Bestehens in einem desolaten Zustand. Erbittert geführte Arbeitskämpfe, die politische Polarisierung des Landes und fachfremde Manager haben dazu beigetragen. Wer kann, wird Privatpatient.

Showdown im OP: Das Chaos im britischen Gesundheitswesen

Showdown im OP: Das Chaos im britischen Gesundheitswesen

Der britische National Health Service ist im 75. Jahr seines Bestehens in einem desolaten Zustand. Erbittert geführte Arbeitskämpfe, die politische Polarisierung des Landes und fachfremde Manager haben dazu beigetragen. Wer kann, wird Privatpatient.

Von Andreas Hippin, London

Zugeben will es in Großbritannien keiner, doch das öffentliche Gesundheitswesen NHS ist im 75. Jahr seines Bestehens in einem desolaten Zustand. Im vergangenen Jahr starben in England mehr als 120.000 Menschen, während sie auf Behandlung warteten. Mittlerweile stehen 7,6 Millionen Menschen auf den Wartelisten für Routineeingriffe. Wer kann, wird Privatpatient. Gründe für die Misere gibt es viele, derzeit stehen die erbittert geführten Arbeitskämpfe der Krankenhausärzte im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Ärzte wollen die Reallohnverluste der vergangenen 15 Jahre, von denen nicht nur Mediziner betroffen waren, aufholen und klagen, der National Health Service (NHS) verfüge über zu wenig Personal und Ressourcen. Die Wiederherstellung der Kaufkraft von 2008 würde einer Gehaltserhöhung von 35% entsprechen. Anders als die Krankenschwestern können die Ärzte nicht auf eine breite Solidarität der Bevölkerung hoffen. Dazu verdienen sie einfach zu viel. Zwar behauptet ihre ständische Vertretung, die British Medical Association (BMA), ein „Junior Doctor“ verdiene im ersten Jahr weniger als ein Barista bei der Kaffeehauskette Pret A Manger. Laut Statistik von NHS England beläuft sich das durchschnittliche Jahresgehalt solcher Assistenzärzte jedoch auf 37.051 Pfund und liegt damit weit über dem vom Statistikamt ONS ermittelten britischen Durchschnittseinkommen von 33.000 Pfund. Damit ist aber noch lange nicht Schluss, denn ihre Gehälter steigen fortan Jahr für Jahr. Wer es zum „Consultant“ (Facharzt) bringt, verdient im Schnitt 126.125 Pfund pro Jahr – das Vierfache des Durchschnittseinkommens.

„Ein Schritt zu weit“

Leider sind die BMA-Führer so von ihrer Argumentation überzeugt, dass sie gar nicht wahrnehmen, wie weit sie sich mit ihren Forderungen von der Bevölkerung entfernt haben. Der vom Royal College of Nursing organisierte Streik der Krankenschwestern für ähnlich ambitionierte Forderungen endete mit einer Lohnerhöhung von 5%, weil sich an einer weiteren Urabstimmung nicht mehr genug Mitglieder beteiligten. Bei den „Junior Doctors“ votierten dagegen 98% für weitere Arbeitskampfmaßnahmen – bei einer Wahlbeteiligung von 71%. Der Tarifkonflikt dauert nun schon zehn Monate an, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Gesundheitsminister Steve Barclay zufolge mussten bereits 900.000 Krankenhaustermine streikbedingt abgesagt werden. Diesen und kommenden Monat werden in den öffentlichen Krankenhäusern an vier Tagen gemeinsame Arbeitsniederlegungen von Assistenzärzten und Fachärzten stattfinden. So etwas hat es in der Geschichte des NHS noch nicht gegeben. Für Matthew Taylor, den CEO der NHS Confederation, ist es ein Albtraumszenario. „Das ist ein Schritt zu weit und wird zu unnötigen Verzögerungen und Qualen für die Patienten führen“, sagt Taylor. Die Sicherheit der Patienten sei trotz der Zusicherung, wenigstens einen Notdienst wie am ersten Weihnachtsfeiertag aufrechtzuerhalten, in Gefahr. Weitere Arbeitskampfmaßnahmen seien das Letzte, was der NHS vor dem herannahenden Winter brauche. „Das Risiko für die Patienten ist unerträglich“, sagte Wes Streeting, der im Falle eines Labour-Wahlsieges Barclay als Gesundheitsminister ablösen würde. Allerdings liegt für ihn die Verantwortung für die verfahrene Situation nicht bei den Ärzten. „Die Schuld an den gestrichenen Terminen, verspäteten Operationen und wachsenden Wartelisten trägt 10 Downing Street.“ Premierminister Rishi Sunak und sein Gesundheitsminister dürften sich nicht länger weigern, mit den Medizinern zu verhandeln. Ihr „letztes Angebot“ sah so aus: 10,3% mehr Gehalt für Assistenzärzte im ersten Berufsjahr, im Schnitt 8,8% mehr für „Junior Doctors“ insgesamt. Fachärzte erhalten 6% mehr, was die BMA als „beleidigend“ zurückwies. Bislang waren die Fachärzte an Streiktagen der „Junior Doctors“ eingesprungen, um einen halbwegs sicheren Betrieb der Kliniken zu gewährleisten. Nun soll es nur noch eine Feiertagsbesetzung geben. Der Arbeitskampf ist, wie alle Tarifkonflikte im öffentlichen Dienst, Ausdruck der starken politischen Polarisierung im Land. Linken Gewerkschaftsführern und Aktivisten geht es nicht nur um mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch darum, die verhasste Tory-Regierung unter Druck zu setzen. Mit der schottischen Regierung einigte sich die BMA auf 12,4% mehr Gehalt für Assistenzärzte. Zusammen mit der Erhöhung von 4,5%, die sie im Vorjahr erhielten, haben sie damit innerhalb von zwei Jahren 17,5% mehr für sich herausgeholt. Andere Berufsgruppen können von solchen Gehaltssprüngen nur träumen. Auf den Unterschied zu England angesprochen, sagte Vivek Trivedi, der Co-Vorsitzende des für „Junior Doctors“ zuständigen BMA-Ausschusses, man müsse ja auch berücksichtigen, dass in Schottland keine Studiengebühren verlangt würden, während Mediziner in England noch lange ihre Studienkredite abzahlen müssten. Dabei ließ er unerwähnt, dass andere englische Studierende die künftigen Ärzte mit ihren Gebühren subventionieren. Denn ein Medizinstudium verursacht weitaus höhere Kosten als ein Studium der Literaturwissenschaften oder der Ökonomie, ohne dass dafür höhere Gebühren verlangt werden.

Um einen Mythos zu widerlegen: Es hat dem NHS unter den Tories nicht an Geld gefehlt. Das Budget des Gesundheitsministeriums, von dem um die 85% im öffentlichen Gesundheitswesen versickern, ist noch in jedem Jahr seit der Wahl von David Cameron 2010 gestiegen. Und wenn es um die staatlichen Gesundheitsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt geht, war das Land in diesen Jahren unter den OECD-Staaten auch stets unter den Top 4. In den vergangenen Jahren war es sogar führend. Das Geld kommt nur offenkundig nicht dort an, wo es gebraucht wird. Krankenschwestern, Allgemeinärzte und Fachärzte können meist nicht erklären, wo es hingeht. Denn bei ihnen kommt es nicht an. Der NHS ist eine zentralistische Bürokratie, in der fachfremde Manager das Sagen haben. So führte zwischen 2007 und 2011 die Ex-Personalchefin der Supermarktkette Tesco das Thema Human Resources. Es hat sich eine generische Führungskultur herausgebildet, deren Protagonisten auf jeden Managementtrend aufspringen, aber im entscheidenden Moment versagen. Der Fall Lucy Letby ist dafür ein Extrembeispiel. Die Krankenschwester brachte mindestens sieben Säuglinge um und versuchte sechs weitere zu töten. Obwohl erfahrene Kinderärzte das Management des Hospitals auf einen möglichen Zusammenhang zwischen den Todesfällen und ihrer Anwesenheit auf der Neugeborenenstation aufmerksam gemacht hatten, konnte ihr nicht früher das Handwerk gelegt werden. Denn Letby gab sich als Mobbing-Opfer aus, das von ranghöheren Männern eingeschüchtert werde. Die Ärzte wurden angewiesen, sich bei ihr zu entschuldigen. Die Polizei wurde nicht eingeschaltet. Mehr Sorgfalt im Management des Krankenhauses hätte hier Leben retten können.

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