Notiert inFrankfurt

Sommerrealität statt Sommermärchen

Die Baustellen am Frankfurter Bahnhofsvorplatz sind rechtzeitig zur Fußball-EM verschwunden. Aber die Infrastruktur hakt trotzdem. Deutschland zeigt sich ehrlich und ungeschminkt. Die Fußballfans feiern dennoch friedlich, bunt und weltoffen.

Sommerrealität statt Sommermärchen

Notiert in Frankfurt

Sommerrealität statt Sommermärchen

Von Lutz Knappmann

Irgendwas ist anders, irgendwas fehlt. Es dauert einen Moment, bis der schweifende Blick über den Frankfurter Bahnhofsvorplatz zu der Erkenntnis führt: Die Baustellen sind weg! Tatsächlich sind zwischen Düsseldorfer Straße und Bahnhofsviertel die omnipräsenten Holzzäune und Straßensperrungen verschwunden, die seit einer gefühlten Ewigkeit den Umbau des Bahnhofs-Zwischengeschosses und einiger U- und S-Bahn-Zugänge flankiert haben. Und das pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft.

Wieder einmal, so scheint es, wirkt ein sportliches Großereignis als Katalysator, um nervige, aber dringliche Baumaßnahmen zeitgerecht zum Abschluss zu bringen. Während Olympia 1972 der bayerischen Landeshauptstadt München ihre erste U-Bahn bescherte, reicht es bei der EM 2024 in Frankfurt immerhin dafür, einige Zugänge zum ÖPNV-Netz zu sanieren. Was freilich nichts daran ändert, dass das Verkehrssystem in der Mainmetropole chronisch überlastet und unzuverlässig ist. Die Beförderung der vielen Tausend internationalen Fußballfans, die die Stadt in diesen Junitagen fluten, macht das nicht einfacher.

Aber so ist es nun mal. Im Grunde es ist müßig, sich über das vermeintlich schlechte Bild zu empören, das Deutschland durch derlei Unzulänglichkeiten abgebe. War es denn jemals realistisch, für die Dauer der EM den Anschein jener organisatorischen Effizienz und Perfektion zu erzeugen, derer sich die Deutschen so gerne rühmen? Die Realität einer von Investitionsstau und Fachkräftemangel geplagten Infrastruktur entspricht dem schließlich schon lange nicht mehr. Und jeder weiß das.

Darin liegt das wahre gesellschaftspolitische Potenzial dieser Fußball-EM: Deutschland macht sich ehrlich gegenüber seinen europäischen Nachbarn, traut sich, ein ungeschminktes Bild von Staat und Gesellschaft zu zeigen – ob nun aus vollem Herzen oder bisweilen schlicht gezwungenermaßen. Auch von der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ist bis heute vor allem ein prägendes Gefühl in Erinnerung geblieben: eine ungewohnte, fröhliche Leichtigkeit.

Natürlich ist es wichtig, die politischen, sozialen und infrastrukturellen Probleme dieses Landes zu lösen. Aber nicht, um im Kontext eines Fußballwettbewerbs ein besseres Marketingbild abzugeben, sondern um das Leben der Betroffenen wirklich zu verbessern. Niemanden überrascht es, dass es im viel gescholtenen Frankfurter Bahnhofsviertel auch der erheblichen Polizeipräsenz nicht gelingt, die prekäre Lebensrealität der Menschen dort zu kaschieren. Aber die bunt gekleideten Fußballfan-Gruppen lassen sich davon auf ihrem Weg zur Fanmeile oder zum Stadion ohnehin nicht bremsen. Sie feiern ein Sportfest, friedlich, gut gelaunt und weltoffen.

Das erhoffte perfekte und strahlende Sommermärchen entsteht so zwar nicht. Aber dazu taugt diese EM schon deshalb nicht, weil auch der Sommer sich ziemlich wankelmütig und unperfekt zeigt.

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