Tiefflug im Nebel für die Luftfahrtindustrie
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. In der Luftfahrtindustrie ist die Hoffnung auf eine absehbare Wende zum Besseren der Erkenntnis gewichen, dass die negativen Folgen der Coronakrise andauern und die Branche sich nur sehr langsam von der Pandemie erholen wird. Die jüngsten Bilanzen und Ausblicke von Boeing, Airbus, MTU Aero Engines und Air France-KLM zeigten ein ernüchterndes Bild von der Lage. Milliardenverluste der Flugzeughersteller und der französisch-niederländischen Luftfahrtgesellschaft sowie ein Gewinneinbruch beim Münchner Triebwerkhersteller schrecken Anleger ab.
Hinzu kommen Prognosen der Konzernführungen für 2021, die bei Investoren Zweifel aufkommen lassen, dass die Branche im laufenden 12-Monats-Berichtsturnus aus der Talsohle herauskommt. Bildlich ausgedrückt gleicht die Situation dieses kapitalintensiven Hochtechnologie-Gewerbes einem Tiefflug im Nebel. Von den Führungskräften weiß niemand überzeugend genau, wie es im Geschäft weitergeht. Airbus-Chef Guillaume Faury hält an seiner Vorhersage fest, dass die Nachfrage im Luftverkehr zwischen 2023 und 2025 wieder auf das Niveau vor Ausbruch des Covid-19-Virus zurückkehren werde, obwohl er zur Bilanzvorlage im gleichen Atemzug eine weitere Verschlechterung auf kurze Sicht einräumen musste. Solche Aussagen sorgen am Markt für zusätzliche Verunsicherung. Aktien von Unternehmen aus dem Luftfahrtsektor werden an den Börsen mit Abschlägen gehandelt. Trotz zeitweiliger Kurserholungen nach dem Crash vom März und April vergangenen Jahres notieren die Titel noch deutlich unter ihren Ständen vor dem weltweiten Ausbruch der Seuche Ende Februar 2020. Im Detail sind es bei Air France-KLM −49%, bei Boeing −36%, bei Airbus −34%, bei MTU −33% und bei der Deutschen Lufthansa −27%.
Darin spiegelt sich die Befürchtung wider, dass die Branche auf kurze- bis mittlere Sicht weiter mit Lockdowns in den Industrieländern, Reisebeschränkungen und sogar Flug- und Landeverboten in Staaten, in denen sich gefährliche Corona-Mutationen besonders stark ausgebreitet haben, zu kämpfen haben wird. Jeder Tag, an dem Einschränkungen andauern, ist für die Branche ein verlorener, der Milliarden an Umsatzausfällen kostet.
Größe schützt vor Untergang
In einer Krise wie derzeit greifen die Unternehmen auf ein Standardrezept zurück, welches in einer solchen Situation immer angewendet wird: Der Abbau tausender Arbeitsplätze und deutlich gedrosselte Produktionen mit dem Ziel, die Kosten drastisch zu drücken, um Barmittelabflüsse zu reduzieren oder bestenfalls zu stoppen. Das exerzieren unter anderem Airbus, die Lufthansa und MTU vor. Die verantwortlichen Manager in den Unternehmen können aber von Glück reden, dass sie sich derzeit nicht noch zusätzlich mit hohen Zinsen herumplagen müssen, die die Aufnahme von Fremdkapital sehr teuer machten. Stattdessen erhalten sie unerwartet Rückenwind von der ultralockeren Politik der Notenbanken. Geld kann man sich fast für Null ausleihen. In diesem Umfeld ist es ein Leichtes für Unternehmen mit staatlicher Rückendeckung, sich mit Krediten vollzusaugen, um den Liquiditätsbedarf für das operative Geschäft zu decken.
Dass das in der Coronakrise und darüber hinaus infolge selbstverschuldeter, folgenschwerer Fehler in der Flugzeugfertigung im Extremfall wie bei Boeing zu einer faktischen Schieflage auf der Passivseite der Bilanz mit einer negativen Eigenkapitalquote von fast 12% führen kann, spricht dem kaufmännischen Vorsichtsprinzip Hohn. Ein negatives Eigenkapital von über 18 Mrd. Dollar ist ein Zeichen dafür, dass Boeing überschuldet ist. In diesem Fall wäre eine Kapitalerhöhung vonnöten. Stattdessen aber baut die Führung des Airbus-Wettbewerbers aus Chicago in der desolaten Lage auf Staatsgarantien und billige Milliardenkredite ihrer Gläubigerbanken.
Die Causa Boeing legt ein Zeugnis darüber ab, wie Konzerne abdriften können, wenn diese aus Sicht der betroffenen Volkswirtschaft „to big to fail“ sind. Theoretisch kann Boeing zwar pleitegehen, faktisch aber niemals. Das lässt Washington nicht zu – egal wer im Weißen Haus sitzt.
Staaten hängen mit drin
In Europa herrscht die gleiche Einstellung vor. Dort können die angeschlagenen Luftfahrtunternehmen ebenfalls darauf bauen, dass Vater Staat im Notfall eingreift. Denn Luftfahrtgesellschaften, Flugzeugbauer und ihre wichtigen Zulieferer werden von der Politik als schützenswerte nationale Schlüsselgesellschaften betrachtet. Das zeigen die Rettungsmaßnahmen Berlins für die Lufthansa. Noch viel mehr gilt das im Extremfall für Airbus, wo Deutschland, Frankreich und Spanien mit Kapitalanteilen von zusammen 26% mit im Boot sitzen. Sollte der europäische Prestigekonzern mit operativem Hauptsitz in Toulouse in ähnliche Schwierigkeiten geraten wie sein US-Rivale, wären Paris, Berlin und Madrid sofort zur Stelle. Und dies, obwohl Airbus darauf dringt, als ein „normales Unternehmen“ betrachtet und entsprechend behandelt zu werden. Aber Airbus ist nicht „normal“ – genauso wenig wie Boeing. Neben Verkehrsflugzeugen fertigen beide Unternehmen auch Rüstungsgüter und versorgen das Militär „ihrer“ Staaten. Daher ist es ein Dogma, die ganz Großen in der Luftfahrtbranche nicht hängen zu lassen– egal was passiert und egal wie sich die Pandemie weiter entwickelt.