Olympische Spiele

Tokio erklimmt den Kosten-Olymp

Japan wollte die „kompaktesten“ Olympischen Spiele aller Zeiten ausrichten. Die Realität ist: Auch den Veranstaltern in Tokio laufen längst die Kosten davon.

Tokio erklimmt den Kosten-Olymp

Von Martin Fritz, Tokio

Das ungeschriebene ökonomische Gesetz der Olympischen Spiele macht auch vor Tokio nicht Halt. Die Stadt wollte die Kosten für das Sportspektakel, das in rund 100 Tagen beginnen soll, durch die „kompaktesten“ Spiele aller Zeiten, die Wiedernutzung alter Sportstätten und den Bau temporärer Stadien deckeln. Nun könnten es die teuersten Sommerspiele aller Zeiten werden.

Bei der Vergabe 2013 umfasste das Budget 829 Mrd. Yen (heute 6,4 Mrd. Euro). Vier Jahre später waren die Ausgaben auf 1,35 Bill. Yen (10,4 Mrd. Euro) gewachsen. Dabei hatte Tokio auf das ursprünglich geplante, 300 Mrd. Yen teure Stadion verzichtet und es durch einen halb so teuren Entwurf ersetzt. Die pandemiebedingte Verschiebung und die Abwehr der Virusgefahren erzeugen Extrakosten von 294 Mrd. Yen. Offiziell belaufen sich die Ausgaben für „Tokyo 2020“, wie die Veranstaltung unverändert heißt, auf 1,64 Bill. Yen (12,6 Mrd. Euro). Unberücksichtigt ist der Ausschluss ausländischer und die mutmaßliche Begrenzung einheimischer Zuschauer – die Tickets sollten 800 Mill. Dollar einbringen.

Unabhängige Kalkulationen kommen auf noch höhere Summen. Ökonomen der Universität Oxford bezifferten die Kosten schon vor der Bekanntgabe der Pandemie-Mehrausgaben auf 15,8 Mrd. Dollar – 800 Mill. Dollar mehr als der Spitzenreiter London. Sie addierten das operative Budget und sämtliche direkt auf den Sport bezogenen Kosten. Inklusive Pandemie-Effekt wären es 18,6 Mrd. Dollar – 242% mehr als bei der Bewerbung (siehe Grafik). Japans Rechnungshof kam 2018 auf Kosten von 2,8 Bill. Yen (21,6 Mrd. Euro) und verwies u. a. auf offiziell nicht einkalkulierte 650 Mrd. Yen für die Reparatur von Gebäuden, Sicherheitsvorkehrungen und Dopingkontrollen. Zudem hatte die Tokioter Gouverneurin Yuriko Koike zusätzliche olympiabezogene 810 Mrd. Yen (6,2 Mrd. Euro) in das Stadtbudget aufgenommen. Damit finanzierte Tokio barrierefreie Zugänge für die Athleten der Paralympics, die Ausbildung von Freiwilligen sowie Werbung und Tourismusförderung. Die Zeitungen „Nikkei“ und „Asahi“ schätzten die wahren Gesamtkosten daher auf 3 Bill. Yen (23 Mrd. Euro).

Langfristwirkung zweifelhaft

Laut den Oxford-Forschern treiben sechs Faktoren die Kosten: die Unumkehrbarkeit (Ausstieg unrealistisch), der feste Zeitplan (Verschiebung unmöglich), die Koppelung an die Erfordernisse der Sportarten, das Blankoscheck-Syndrom (das Internationale Olympische Komitee, IOC, ist am Kostenplus nicht beteiligt) und das Ewiger-Anfänger-Syndrom (jede Stadt beginnt bei null). Das IOC verweist lieber darauf, dass die operativen Budgets der Spiele in der Regel weniger aus dem Ruder laufen als die Gesamtkosten. Tatsächlich konnten die Organisatoren der Spiele in Tokio die Rekordsumme von 3,3 Mrd. Dollar von lokalen Sponsoren einsammeln und damit die Hälfte des Budgets von 6,7 Mrd. Dollar finanzieren. Zum Vergleich: Die IOC-Direktsponsoren, darunter Bridgestone, Panasonic und Toyota aus Japan, steuern nur 0,5 Mill. Dollar bei. Aber für die Kritiker zählt dieser Punkt wenig: Die operativen Ausgaben sollen möglichst klein aussehen, um künftige Bewerber für die Spiele nicht abzuschrecken, sagt der Japan-Ökonom Franz Waldenberger.

Organisationschef Toshiro Muto weicht solchen Einwänden aus. „Rein unter dem Aspekt von Kosten ergeben die Spiele keinen Sinn“, gab er zu. „Aber wenn man sie als positive Investition betrachtet, dann gibt es einige sinnvolle Gebiete.“ Er meint den Gesamteffekt der Spiele, den die Organisatoren ursprünglich auf 20 Bill. Yen für Tokio bzw. 32 Bill. Yen (246 Mrd. Euro) für ganz Japan schätzten – elfmal mehr als die höchste Kostenrechnung. Dazu zählten sie die Ausgaben für die Sportstätten (350 Mrd. Yen), die Austragung der Spiele (1,06 Bill. Yen) und ein Konsumplus (569 Mrd. Yen). Diese Effekte von insgesamt 2 Bill. Yen motivierten das deflationsgeplagte Japan wohl am meisten zur Bewerbung. Die Langfristwirkung setzten die Olympiamacher mit 12,2 Bill. Yen an – darunter die weitere Nutzung der Sportstätten, die Zunahme sportlicher Aktivitäten sowie das Wachstum von Unternehmen durch Tourismus und Informationstechnik.

Doch die Pandemie hat Prognosen dieser Art in Makulatur verwandelt. Vom Plus bleibt wenig übrig. Der Ökonom Katsuhiro Miyamoto geht davon aus, dass der erwartete Konsumzuwachs sich auf 281 Mrd. Yen halbiert, da die Spiele den Japanern keine Freude bringen. Die Marketingausgaben der Sponsoren wären damit weitgehend für die Katz. Auch der Stimuluseffekt für Sport- und Kultur-Events nach Olympia wird nach seiner Vorhersage um die Hälfte auf 851 Mrd. Yen schrumpfen. Besonders verheerend wirkt sich laut Miyamoto die Beschränkung der Zuschauerzahl aus. Sinkt sie um die Hälfte, schrumpft der Konjunktureffekt auf 1,4 Bill. Yen. Bleiben die Stadien ganz leer, fallen 2,4 Bill. Yen an ökonomischer Wirkung aus. Überhaupt nicht in Yen aufwiegen lässt sich dagegen das verringerte Extra an Nationalstolz, das manchem Ausrichter als letzte, heimliche Rechtfertigung für die Kosten dient.