Unternehmensführung

Transfor­mation und Zukunfts­fähigkeit der deutschen Wirtschaft

Die Hälfte aller Unternehmens­prozesse könnte über Nacht abgeschafft werden, und zwar ohne negativen Impact und ohne Risiko für die Wertschöpfung.

Transfor­mation und Zukunfts­fähigkeit der deutschen Wirtschaft

„Verteilen Sie eigentlich Endorphine an Ihre Mitarbeiter?“ Welch Kompliment eines großen Kunden.

Wie macht man Unternehmen zukunftsfähig für eine Welt, in der Transformation und Disruption die Normalität darstellen? Ganz einfach: Verabschieden Sie sich von der Illusion von Steuerung und Kontrolle. Verabschieden Sie sich von 50% Ihrer Prozesse und Regeln.

Wir brauchen Mut

Die deutsche Wirtschaft hat noch immer großes Potenzial. Aber wir müssen die PS jetzt auf die Straße bringen. Wir brauchen Mut, Innovation, Entscheidungsfreude, Anpassungs- und Erneuerungsfähigkeit, Diversität, Agilität und Speed.

Davon nehme ich in der Praxis wenig wahr, die geprägt ist von Risikoaversion und Absicherungsmentalität. Obwohl ich weiß, dass viele Vorstände und Aufsichtsräte meine tiefe Sorge darüber teilen. Auch darüber, dass diese Tendenz mit dem Ukraine-Krieg sogar noch zu­nimmt.

Dabei wissen wir: Mit einem „weiter so“ sind wir international nicht zukunftsfähig. Deshalb gibt es ja in allen Konzernen seit Jahren Change-Initiativen und Transformationsprogramme, die Agilität, Kreativität, Innovation und Empowerment fördern sollen, mit denen eine Verantwortungs-, Vertrauens-, Entscheidungs- und Fehlerkultur etabliert werden soll. Aber sie greifen nicht. An die 70% Versagensquote zeigen Studien hier.

Die richtigen Stellschrauben

Der Grund ist ein blinder Fleck. Die Initiativen setzen an den falschen Stellen an. Entweder bei der Kultur – dabei ist Unternehmenskultur eine Folge, ein Produkt. Bei ihr anzusetzen ist der Versuch, den Schwanz mit dem Hund wedeln zu lassen. Oder beim Menschen, der verändert oder „entwickelt“ werden soll. Aber wir springen zu kurz, wenn wir vom Verhalten von Mitarbeitern und Führungskräften auf deren Persönlichkeit schließen. Verhalten ist weit weniger von der Persönlichkeit geprägt, als wir denken; primär geprägt wird es vom Kontext. Von der Organisation, der Struktur oder – mit Niklas Luhmanns Worten – dem System.

Ansetzen muss Veränderung daher beim System, den strukturellen und organisationalen Rahmenbedingungen. In ganzer Breite und Tiefe. Denn wir „steuern“ unsere Konzerne mit einem Werkzeugkasten, der in Zeiten industrieller Blüte seine Richtigkeit gehabt haben mag. In die heutige Welt passt er nicht mehr. Und das nicht erst seit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg, seit unterbrochenen Lieferketten, explodierenden Energiepreisen und dem Auseinanderdriften der Welt und ihrer Märkte. Transformatorische und disruptive Kräfte wie Digitalisierung, Klimakrise, Fachkräftemangel, Arm-Reich-Schere, Cybercrime und die Macht sozialer Medien prägen unsere Realität schon lange.

Da ist also die VUCA World, unsere volatile, unsichere, chaotische Welt voller Ambiguitäten auf der einen Seite – und da sind die Prozesshäuser und Prozesslandschaften unserer Konzerne auf der anderen. Mit teilweise tausenden Dokumenten, die vorschreiben, wer was wann wie zu tun, lassen, reporten und zu approven hat.

Meine These: Die Hälfte der Prozesse könnte über Nacht abgeschafft werden, ohne negativen Impact, ohne Risiko für die Wertschöpfung. Und, um diesem Einwand gleich zuvorzukommen: unter Einhaltung der rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen und ohne Erhöhung von Haftungsrisiken (hier spreche ich als Juristin, die in früheren Jahren für Konzerne Recht & Compliance verantwortet hat).

Immunsystem überwinden

Aber warum „entbürokratisieren“ wir unsere tradierten Konzerne nicht einfach?

Zum einen fühlen wir uns in guter Gesellschaft. Wenn es alle schon – und noch – immer so machen, wird es schon richtig sein. Elaborierte und ausdifferenzierte Bonussysteme, Mitarbeiterentwicklungsprogramme, Approval- und Reporting-Systeme, Investitions- und Budgetprozesse, IKS, CMS und vieles mehr gelten als professionell. Aber sie lenken die Aufmerksamkeit nach innen, weg von der eigentlichen Arbeit, von Kunde, Markt, Wettbewerb und Innovation – weg von der Wertschöpfung. Bis zu 70% ihrer Arbeitszeit verbringen Arbeitnehmer mit solchen internen Referenzen. Zum anderen haben Organisationen eine Art Immunsystem, das Veränderung abstößt. Dieses muss man verstehen, um clever damit umzugehen.

Ein dritter Grund: In unsicheren Zeiten wächst die Sehnsucht nach starker Führung. Nach klaren Regeln. Nach schwarz und weiß. Die Verlockung des Autoritären ist das Schlagwort. Diese Sehnsucht existiert nicht nur in der Politik. Aber wir wissen, dass wir der Komplexität und Dynamik der heutigen Welt mit hierarchisch und zentralistisch geprägten Führungsstrukturen nicht erfolgreich begegnen können. Mit überholten Governance-Instrumenten erhalten wir nur noch eine Illusion von Steuerung und Kontrolle aufrecht – lassen wir sie hinter uns.

Autonomie statt Boni

Mit folgendem Instrument rate ich anzufangen, denn die negativen Scherkräfte sind immens, der Hebel enorm: Reform von Bonussystemen.

Wir beklagen mangelnde Agilität und Anpassungsfähigkeit, aber legen Jahresziele fest? Wir wissen, dass Erfolg immer die Kooperation mehrerer erfordert, aber setzen individuelle Ziele? Wir beklagen Silomentalität und das Fehlen von crossfunktionalem Teamgeist, aber incentivieren Abteilungen unterschiedlich? Und wir tun dies, obwohl wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass extrinsische Motivationsversuche regelmäßig zu schlechterer Leistung führen?

Der Mensch ist kein Esel. Er braucht keine Karotte. Er braucht Autonomie. Lassen Sie uns das mit dieser Erkenntnis verbundene Potenzial endlich heben – für die Zukunft der deutschen Wirtschaft.

Brit Neuburger war nach Linde und Wittur zuletzt Chief Transformation Officer bei Osram Continental.

In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.