Trauerspiel Evonik
Alles richtig gemacht. Dieses Resümee darf die deutsche Chemieindustrie mit Blick auf ihre M & A-Aktivitäten in diesem Jahr ziehen. Zwar ist anzunehmen, dass keiner der deutschen Konzerne beim Eintüten der milliardenschweren Übernahmen einen US-Präsidenten Donald Trump auf dem Schirm hatte. Doch dürfte sich das Motto “Go West”, das seit ein paar Jahren die strategische Ausrichtung der europäischen Chemiebranche prägt, gerade jetzt auszahlen. Auch wenn noch längst nicht ausgemacht ist, wie viel von der Trump’schen Wahlkampfrhetorik in Realpolitik mündet, so ist doch unübersehbar, dass Industriepolitik zum Schutz der heimischen Wirtschaft wieder hoffähig geworden ist – keineswegs nur in den Vereinigten Staaten und keineswegs nur unter einem Präsidenten Trump. In der EU bot das umstrittene Freihandelsabkommen mit Kanada, Ceta, zuletzt reichlich Anschauungsmaterial zum Thema.Hatte sich das verstärkte US-Engagement der Europäer im Zuge der Schiefergasförderung zunächst auf den Aufbau von Produktionskapazitäten in Übersee erstreckt, wechselten zumindest die deutschen Branchenvertreter in diesem Jahr auf die M&A-Bühne. Zum Beleg muss man nicht gleich die 66 Mrd. Dollar schwere Übernahme von Monsanto durch Bayer bemühen. Mit Evonik, BASF und Lanxess nutzten gleich drei weitere Branchenvertreter die Gunst der Niedrigzinsen, um sich akquisitorisch jenseits des großen Teichs zu stärken.Da wie dort geht es um die Erweiterung des Spezialitätengeschäfts, der Königsdisziplin in der Chemie. Das ist wenig verwunderlich, sind die europäischen Anbieter auf den Massenmärkten doch zunehmend mit Kostennachteilen – Stichwort: Energie und Rohstoffe – konfrontiert. Bei Spezialitäten dagegen sind die Abnehmer deutlich weniger preissensibel, nicht zuletzt weil die Produkte bei den Abnehmern oft nur einen geringen Anteil an deren gesamten Produktionskosten ausmachen. Hinzu kommt die eher verhaltene Perspektive für Europa, was das Wirtschaftswachstum anbelangt. Den USA werden dagegen dank Fracking-Booms und der damit einhergehenden Reindustrialisierung neue Wirtschaftswunderzeiten prophezeit.Die angekündigten Akquisitionen hinterließen bei den Investoren jedoch sehr unterschiedliche Eindrücke. Zu den nachdrücklichen Underperformern gehört in dieser Hinsicht Evonik, die an der Börse einfach keinen Fuß auf den Boden bekommt. Erst Anfang des Monats sorgten die Essener mit ihrem Quartalsbericht erneut für eine bittere Enttäuschung und die Aktie nahm wieder Kurs auf das im Juli 2013 erreichte Allzeittief.Evonik ist wie so manch anderer Chemiekonzern in der Vergangenheit in die als Schweinezyklus bekannte Falle getappt, in der steigende Preise zum Aufbau von Kapazitäten führen, die dann wegen des Lemming-Effekts weltweit in Überkapazitäten und Preisverfall münden. Sowohl Covestro als auch Lanxess können davon ein Lied singen – auch wenn bei ihnen andere Produkte betroffen waren und sind.Die traurige Kursentwicklung von Evonik – Erstzeichner der im April 2013 emittierten Aktie haben bis heute ein Fünftel ihres Einsatzes verloren, wenn man die Dividende unberücksichtigt lässt – hat aber weitaus mehr Gründe. So wurde das Material für den Börsengang weit überwiegend vorbörslich und fast ausschließlich bei langfristig orientierten Investoren platziert. Der anfänglich dürftige Streubesitz ist mit dem Ausstieg des Finanzinvestors CVC zwar breiter geworden, das grundsätzliche Problem des üppigen Aktienüberhangs ist aber längst nicht beseitigt. Die RAG-Stiftung nennt bis heute knapp 68 % ihr Eigen. Damit verknüpft ist letztlich das schwerwiegendste Problem, die verbesserungswürdige Corporate Governance. Zwar ist es nur natürlich, dass der Hauptaktionär auch den Aufsichtsratsvorsitzenden stellt. Doch wer schon einmal einer Hauptversammlung von Evonik beiwohnte, weiß, wer das Sagen hat.Der Bau des “strotznormalen Konzerns”, den der heutige Aufsichtsratsvorsitzende Werner Müller bei der Aufteilung der RAG in den weißen und schwarzen Bereich vor Augen hatte, ist bis heute nicht fertiggestellt. Denn dazu gehört auch der Rückzug der vom Staat kontrollierten Stiftung auf eine Minderheit. “Zum Glück gibt es auch Großprojekte in Deutschland, die in Ruhe zu Ende gebracht werden”, spottete Evonik nach dem gelungenen Börsendebüt über Elbphilharmonie und Flughafen Berlin/Schönefeld. Doch während in Essen heute beim Blick auf die Kurstafel resignierend der Kopf geschüttelt wird, findet in der Elbphilharmonie am 11. Januar das erste Konzert statt.——–Von Annette BeckerZur Fertigstellung des “strotznormalen Konzerns” Evonik gehört auch der Rückzug der RAG-Stiftung auf eine Minderheit am Kapital.——-