Varianten des Eskapismus
Notiert in Moskau
Varianten des Eskapismus
Von Eduard Steiner
Die Russen wollen nicht nur in den Urlaub, sie wollen sich offenbar auch mental wegbeamen. So zumindest lässt sich die Mitteilung deuten, die Ende Juli auf der Luftfahrtinformationsseite Avianews auftauchte. Ihr zufolge lädt die führende Fluggesellschaft Aeroflot nun mehr Alkohol in die Flugzeuge ein, weil die Passagiere das Hochprozentige schon vor dem Abflug austrinken würden. Konkret ist die Rede von der Business Class und beliebten Urlaubsdestinationen wie Istanbul, den ägyptischen Strandorten Scharm El-Scheich und Hurghada oder auch dem südrussischen Sotschi. Für diverse Flüge sei doppelt so viel Cognac wie zuvor eingeladen worden, bei Whiskey waren es 50% mehr.
Dem Duma-Abgeordneten Sergej Altuchow stieß allerdings die Tatsache auf, dass noch immer zu viel Alkohol aus nicht freundschaftlichen Ländern – so der Terminus für den kollektiven Westen – getrunken wird. Und so schlug er vor, dass russische Airlines statt der französischen, spanischen und italienischen Weine solche aus russischer Eigenproduktion anbieten müssen. Es blieb beim Vorschlag. Denn was der Elite schmeckt, wird sie sich nur ungern selbst verbieten. Sie ist auch so ungehalten genug darüber, was sie an Komfort infolge des Ukraine-Krieges aufgeben muss.
Etwa beim Urlaub. Dass Personen aus dem Staatsapparat mit Zugang zu Staatsgeheimnissen das Land nicht verlassen dürfen, ist nicht neu. Seit Kriegsbeginn fühlen sich aber auch hochrangige Beamte generell dazu angehalten. Sie ziehen sich in diesem Sommer vor allem auf ihre Landhäuser zurück. Denn nicht nur wer unter Sanktionen steht, fährt nicht ins Ausland. Auch die anderen fürchten, dass es ihnen wie den Oligarchen ergehen könnte: Im Ausland bekommen sie Schwierigkeiten, und wer sich zu unpatriotisch gibt, bekommt im Inland eins auf die Mütze.
Und so sind nicht nur die Landhäuser derzeit stark bevölkert, auch die inländischen Urlaubsdestinationen sind es, zumal der rasant abstürzende Rubel Auslandsreisen extrem verteuert hat. Im Inland sind nach wie vor die Strände am Schwarzen Meer am begehrtesten – trotz der Nähe zum Krieg. Zunehmend beliebt wird die gebirgige Region Altaj im südlichen Sibirien an der Grenze zu Kasachstan, China und der Mongolei. Auch die Ufer des Baikalsees sind voller als sonst. Übrigens: Wie beim Alkohol haben die Parlamentarier bereits im Vorjahr auch den Vorschlag abgewendet, den Beamtenurlaub auf das gesetzliche Minimum zu kürzen.
Doch zurück zum Patriotismus: Die Notwendigkeit zur Importsubstitution erreicht inzwischen auch Bereiche, die man sonst nicht so auf dem Schirm hat. Etwa Comics. Da der Vertrag mit Disney (und dem zugehörigen Comics-Verlag Marvel) auslaufe und die Nachfrage nach einheimischen Comics steige, richte der russlandweit drittgrößte Verlag Eksmo ab August eine eigene Redaktion ein, die russische Comic-Autoren entwickeln und verlegen werde, sagte kürzlich der Eksmo-Chef in einem Interview. Sie werden künftig mit den asiatischen Manga-Comics konkurrieren, die unter den Russen im Alterssegment bis 30 nach wie vor extrem beliebt sind.
Im Übrigen freilich ändert sich das Leseinteresse vor dem Hintergrund des Krieges merkbar. So teilte die Eksmo-Verlagsholding mit, dass die Nachfrage nach religiöser Literatur nach einer fünfjährigen Flaute in den ersten sechs Monaten 2023 gemessen am Umsatz um ganze 40% hochgeschnellt ist. Der Internethändler Ozon verzeichnete überhaupt ein Plus von 121%. Der neue Trend löst laut Eksmo den vorjährigen Run auf esoterische Literatur, insbesondere Bücher über Tarot-Spielkarten zu Wahrsagezwecken, ab – obwohl auch dieses Segment weiter boome. Auch Non-Fiction-Bücher zu Psychologie, Gesundheit, IT und zur Kindererziehung stünden hoch im Kurs. Marktteilnehmer führen dies auf den Wunsch zurück, mit den nötigen Anleitungen trotz der widrigen Umstände ein möglichst normales Leben zu führen. 2022 war noch Flucht aus dem Alltag angesagt: Fatalistische Science-Fiction boomte, die den Krieg als unvermeidlich darstellt.