LEITARTIKEL

Verteilungskampf

Vor dem Ausblick auf das Autojahr 2021 ist ein kurzer Blick in den Rückspiegel hilfreich. Insgesamt dürften 2020 weltweit rund 20 Millionen Fahrzeuge weniger produziert und abgesetzt worden sein als im Rekordjahr 2018. Bei Fahrzeugen mit...

Verteilungskampf

Vor dem Ausblick auf das Autojahr 2021 ist ein kurzer Blick in den Rückspiegel hilfreich. Insgesamt dürften 2020 weltweit rund 20 Millionen Fahrzeuge weniger produziert und abgesetzt worden sein als im Rekordjahr 2018. Bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor war der Absturz sogar noch etwas steiler, da der Anteil elektrifizierter Fahrzeuge (plug-in-hybrid und batterieelektrisch) deutlich zugelegt hat. Die Folge sind auf der Produktionsseite riesige Überkapazitäten – insbesondere bei Zulieferern, die stark am Verbrenner hängen. Wer vor allem davon gelebt hat, beispielsweise Gussteile für Motoren zu fertigen, der kommt bei einer erwarteten Erholung der Automärkte, die sich ohnehin lange hinziehen dürfte, um eine tiefgreifende Restrukturierung nicht umhin. Vor allem der Entschärfung des hiesigen Insolvenzrechts ist es zu verdanken, dass die Zahl der Zuliefererpleiten nicht höher ausfiel. Das dicke Ende wird jedoch den einen oder anderen sicher noch ereilen.Das ist auch den Automobilherstellern bewusst, die verglichen mit früheren Krisen noch selektiver vorgehen werden, wenn es darum geht, zu entscheiden, welchem Zulieferer sie im Notfall unter die Arme greifen. Wahrscheinlich besteht sogar ein Interesse an einer Konsolidierung im Markt, um Ausfallrisiken bei den dann stärkeren Partnern zu minimieren. Schließlich hat das erste Jahr der Coronakrise gezeigt, dass selbst das Ausbleiben der Lieferung weniger Komponenten zu einem temporären Stillstand der Produktion führen kann. Aktuell gibt es in Wolfsburg und einigen anderen VW-Werken wegen Lieferengpässen bei Halbleitern verlängerte Werksferien. Das liegt indes nicht daran, dass der Lieferant finanzielle Probleme hätte, sondern dass die Halbleiternachfrage schneller anzieht, als die Kapazitäten der Produzenten ausgebaut werden können.Mit der Bedeutung des Chipsektors ist für die Automobilindustrie auch die Konsumelektronikmesse CES wichtiger geworden, die der Automesse in Detroit längst den Rang als wichtigste nordamerikanische Autoshow abgelaufen hat. Kommende Woche wird die Veranstaltung, die vergangenes Jahr noch in Las Vegas stattfand, erstmals rein virtuell durchgeführt. Zwar sind einige Vertreter der Automobilindustrie wie Audi, Bosch, GM oder Magna präsent. Allerdings ist das Interesse in diesem Jahr deutlich geringer. Das ist auch kein Zufall. Die Zeiten, in denen die Autobauer der Technologiebranche ihre Aufwartung machen mussten, sind vorbei. Die Tech-Firmen haben längst erkannt, dass ihnen die Transformation des Automarkts gigantische Chancen bietet.Unter den Zulieferern sind die Gewinner der Krise vor allem in der IT- und Elektronikbranche zuhause. Der Aktienkurs des Chipproduzenten Infineon hat sich seit dem Tief im März auf knapp 42 Mrd. Euro mehr als verdreifacht. Die Bewertung der einstigen Siemens-Abspaltung war nie höher. Der Mercedes-Partner Nvidia kommt ebenfalls nach einer Verdreifachung gar auf 332 Mrd. Dollar. Und E-Auto-Pionier Tesla ist sogar bereits mehr als das Doppelte davon wert. Dagegen sind traditionelle Autohersteller und deren börsennotierte Zulieferer kleine Fische. Volkswagen-Chef Herbert Diess hat den Bewertungsnachteil als Problem identifiziert. Gerade jetzt, da der Investitionsbedarf hoch ist, kommen die Technologiekonzerne nicht nur wesentlich günstiger an Kapital. Auch der langjährige Vorteil der alten Platzhirsche, ein starker operativer Cash-flow, bröckelt mit dem Absatzeinbruch. Die neuerlichen Einschränkungen des Wirtschaftslebens zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in Deutschland und vielen anderen Ländern verschärfen diese Problematik zum Jahresauftakt noch weiter.Für die Zulieferer gilt das noch mehr als für Hersteller wie VW, BMW oder Daimler. Denn auch von ihnen erwarten die Hersteller Innovationen, während sie zugleich bemüht sind, ihren Cash-Abfluss etwa durch verzögerte Zahlungen an dieselben Lieferanten zu minimieren. Wer auf der Zuliefererseite in einer schwachen Position ist, leidet daher überproportional. Wer es sich leisten kann, versucht, zum Systemausstatter aufzusteigen. Die Vorzüge davon zeigt der Deal von Nvidia mit Mercedes. Die Kalifornier können auf wiederkehrende Erlöse hoffen, die ein Jefferies-Analyst mittelfristig auf bis zu 5,5 Mrd. Dollar jährlich schätzt. In diesem Jahr werden sich die Verteilungskämpfe zwischen den Herstellern und Zulieferern wohl weiter verschärfen. Wer bei diesem Ausscheidungsrennen auf der Strecke bleibt, ist auch absehbar: kleinere Zulieferer und erneut viele Arbeitnehmer. ——Von Sebastian SchmidDer Autoindustrie steht nach dem Krisenjahr 2020 erneut ein schwieriger Turnus bevor. Die Verteilungskämpfe dürfte mancher nicht überleben.——