LEITARTIKEL

Vier Jahre Krise

Wäre die Enthüllung des ID3 auf der diesjährigen IAA in Frankfurt ohne den heute vor vier Jahren auf Druck von US-Behörden aufgeflogenen Dieselabgasskandal von Volkswagen möglich gewesen? Eher nicht. Dass die Wolfsburger 2020 das weltweit erste...

Vier Jahre Krise

Wäre die Enthüllung des ID3 auf der diesjährigen IAA in Frankfurt ohne den heute vor vier Jahren auf Druck von US-Behörden aufgeflogenen Dieselabgasskandal von Volkswagen möglich gewesen? Eher nicht. Dass die Wolfsburger 2020 das weltweit erste bilanziell CO2-neutrale Elektroauto auf den Markt bringen können, welches die emissionsfreien Fahrzeuge aus der Nische in die Mitte der Gesellschaft bringen soll, ist auf den Weckruf zurückzuführen, für den die größte Krise im VW-Konzern sorgte.Erst der Schock über Software-Manipulationen zur Schönung von Abgaswerten bei Dieselautos auf dem Prüfstand, über kulturelle Missstände und über die finanziellen Folgen dieses Desasters ließ die Idee für ein neues Antriebskonzept zum Zuge kommen. Die Hoffnungen auf einen schnellen Durchbruch der Elektroautos ruhen bei VW neben politischer Hilfe zur Schaffung passender Rahmenbedingungen vor allem auf dem Modularen Elektro-Baukasten. Die Kalkulation: Je mehr Fahrzeuge auf Basis der neuen Elektro-Plattform gefertigt werden, desto günstiger werden sie. Deshalb öffnet der Konzern diesen Baukasten auch für Dritte wie Ford.Für die Wolfsburger besteht wegen verschärfter regulatorischer Emissionsvorgaben vorerst keine Alternative zur E-Mobilität. Den von 2021 an in der EU geltenden Grenzwert von durchschnittlich 95 Gramm CO2 pro Kilometer für Pkw-Neuzulassungen etwa erfüllt derzeit nur der Kleinwagen Up. Verkaufsschlager sind indes die spritschluckenden, aber für den Konzern margenträchtigeren Stadtgeländewagen – jedes vierte weltweit verkaufte Konzernmodell ist mittlerweile ein SUV. Gerade bei diesen Fahrzeugen, die sich als Motor der operativen Erfolge im VW-Konzern erweisen, müssten rasch Elektrovarianten her, die für große Kundengruppen erschwinglich sind. In Anbetracht eines geplanten Einstiegspreises von knapp 30 000 Euro für das Basismodell des Kompaktwagens ID3 in Deutschland warten hier aber noch schwierige Aufgaben.Bis 2028 will der Konzern 70 neue Elektroautos auf den Markt bringen. Bis 2030 soll der E-Anteil in der Flotte auf mindestens 40 % steigen. Dazu sieht Volkswagen allein bis 2023 Investitionen von rund 30 Mrd. Euro vor. Diese Summe entspricht vier Jahre nach der ersten Skizze für den ID3 den aktuellen Belastungen im Zuge des Abgasskandals. Dass der Konzern den größtenteils verbuchten Abfluss dieser Mittel ohne drastische Einschnitte verkraftet hat, ist auf die in den Wachstumsjahren erreichte wirtschaftliche Substanz und auf Faktoren wie Produktqualität zurückzuführen. Nach Jahren mit Absatzrekorden gewinnt der Konzern in der kriselnden Autokonjunktur Marktanteile – etwa in wichtigen Regionen wie China. Dass VW 2018 und im Verlauf dieses Jahres anders als viele andere in der Branche keine Gewinnwarnungen abgeben musste, fördert das Vertrauen bei Kunden wie Anlegern.Wichtig für VW waren die bis Anfang 2017 in Nordamerika erreichten Vergleiche, die zwar für den Großteil der bisherigen Lasten sorgten, aber auch Planungssicherheit brachten. Umso fragwürdiger ist die Aufklärung von “Dieselgate” insgesamt. Angefangen von der zunächst angekündigten, aber dann unterbliebenen Veröffentlichung eines Abschlussberichts der von VW mit der Aufarbeitung beauftragten US-Kanzlei Jones Day, entwickelt sich die Bewältigung des Skandals zur unendlichen Geschichte.Das in Deutschland neu eingeführte Musterfeststellungsklageverfahren etwa, das es Verbrauchern erleichtern soll, sich in einem Schadensfall gerichtlich zu organisieren, könnte sich nach dem Verhandlungsauftakt Ende September über mehr als vier Jahre erstrecken. Ein Ende des im September 2018 am Oberlandesgericht Braunschweig begonnenen Kapitalanleger-Musterverfahrens, das die Frage eines möglichen Verstoßes gegen kapitalmarktrechtliche Publizitätspflichten klären soll, ist nicht abzusehen. Ob und wann es zu einem Prozess gegen Angeklagte wie den früheren VW-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn und Ex-Audi-Chef Rupert Stadler kommen wird, ist offen.Bis zur Klärung der Verschuldensfrage wird Volkswagen die Schatten dieser Vergangenheit nicht loswerden. Zusätzliche Milliardenlasten stehen im Raum, die Frage nach dem Aufklärungswillen wird weiterhin für Unruhe sorgen. Der Konzern sollte nicht zuletzt in Anbetracht des teuren und langen Umstiegs auf die Zukunftstechnologien ein Interesse daran haben, die Aufarbeitung der größten Krise der Firmengeschichte zu beschleunigen. Sie ist nach vier Jahren nicht vorüber.——Von Carsten SteevensVolkswagen benötigt viel Kraft für die Elektro-Offensive. Deshalb sollte der Autobauer die Bewältigung von “Dieselgate” beschleunigen.——