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Wachablösung in Chinas Automarkt

Im weltgrößten Automarkt China übernimmt erstmals ein heimischer Hersteller die Marktführerschaft. BYD verdrängt mit explosivem Wachstum bei Elektroautos den jahrezehntelangen Spitzenreiter Volkswagen.

Wachablösung in Chinas Automarkt

Große Wachablösung in Chinas Automarkt

BYD ist der neue Taktgeber im Massengeschäft – VW hinkt bei E-Autos hinterher

Von Norbert Hellmann, Schanghai, und Carsten Steevens, Hamburg

Man muss gar nicht einschlägige Verkaufsstatistiken heranziehen, um sich ein Bild vom Dynamikwechsel im chinesischen Pkw-Markt zu verschaffen. Beim flüchtigen Rundgang auf der Internationalen Automesse in Schanghai fällt sofort ins Auge, welcher Hersteller das Massenpublikum im wahrsten Sinne des Wortes elektrisiert. Die Besucherstromverteilung auf der Auto Shanghai 2023 als weltgrößtem Branchenstelldichein stellt sich als reges Plätschern mit gedämpfter Akustik auf den Ständen der führenden globalen Autokonzerne wie Volkswagen (VW), General Motors (GM) und Toyota dar, während in dem vom marktführenden Elektroautobauer BYD besetzten Teil der Messehalle ein beispielloses Getümmel mit ohrenbetäubenden Grundrauschen herrscht.

Die auf chinesischen Messen allgegenwärtigen und fesch herausgeputzten „Car-Influencer“ haben wenig Mühe, für ihre halb fachmännischen, halb showgetriebenen Livestream-Beiträge das von VW vorgestellte neue Premium-Elektroautomodell ID.7 den Social-Media-Followern von allen Seiten zu inspizieren und beleuchten. Am BYD-Stand jedoch, wo sowohl die Luxus-SUV-Walze U8 der neuen BYD-Premium-Marke Yangwang wie auch ein extrem preisgünstiges elektrisches Hatchback-Modell namens BYD Seagull die Hingucker sind, verfangen sich die Livestream-Profis mit ihren Selfie-Sticks in einer hoffnungslosen Teleskopgestänge-Schlacht, die kein vernünftiges Bildmaterial ermöglicht, wohl aber den Eindruck vermittelt, im Zentrum des Geschehens zu sein.

Rascher Siegeszug

Der von US-Anleger-Papst Warren Buffett als Frühinvestor begleitete BYD-Konzern hat sich in der Pandemiezeit binnen weniger als zwei Jahren von einem in den Absatzstatistiken solide, aber nicht sonderlich auffällig positionierten chinesischen Markenhersteller zum E-Auto-Trendsetter mit stratosphärischem Wachstum gemausert. Weder der in seinem Gigawerk in Schanghai für China und auch andere Märkte produzierende US-Elektroautopionier Tesla noch ein halbes Dutzend aufstrebender heimischer E-Autobauer aus der Startup-Szene haben dem viel entgegenzusetzen.

In Chinas junger aufstrebender Mittelschicht, der wichtigsten Autokäufergruppe im weltgrößten Pkw-Markt, hat die Anfang 2022 aus dem Benzinergeschäft ausgestiegene BYD mit Batteriefahrzeugen und Plug-in-Hybriden einen Siegeszug angetreten, der Prognosen einer eher schleichenden Aufholjagd chinesischer Automarken gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten völlig konterkariert. Vielmehr sorgen die hohen Umdrehungen beim BYD-Absatz maßgeblich dafür, dass die heimischen Hersteller nun bereits auf gut 80% Marktanteil bei Batteriefahrzeugen kommen und auch ihren Anteil im Gesamtmarkt rasch ausdehnen.

Insgesamt konnte BYD im zurückliegenden Jahr 1,86 Millionen Elektroautos, darunter auch Fahrzeuge mit hybridem Antrieb, verkaufen und erstmals den US-Riesen Tesla mit 1,31 Millionen reinen Batteriefahrzeugen vom Spitzenplatz verdrängen. Aus der Erfolgsstory von BYD, die 2022 deutlich mehr Autos verkaufte als in den vier vorangegangenen Jahren zusammengenommen, darf man indes nicht schließen, dass für alle chinesischen E-Autobauer paradiesische Zeiten angebrochen sind. Insbesondere bei den als Tesla-Jäger gefeierten Herstellern aus der Start-up-Szene, wie Nio und Xpeng, sind die Geschäfte seit Jahresmitte 2022 wesentlich zäher gelaufen, und es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass sie vom noch sehr ungleichgewichtigen Konjunkturaufschwung in China sonderlich profitieren werden. Besonders zugesetzt hat ihnen wie auch anderen Herstellern von gehobeneren Elektrofahrzeugen eine von Tesla losgetretene Preissenkungsschlacht, bei der die vom Erreichen der Gewinnschwelle teilweise noch um Jahre entfernten Newcomer im Gegensatz zur mittlerweile sehr gewinnstarken BYD nur sehr bedingt mitziehen können und wollen.

Im vergangenen Jahr wurden 6,9 Millionen New Energy Vehicles (NEV) in China verkauft, womit die ursprünglich von der Regierung gesetzte und als sehr anspruchsvoll geltende Marke von 5 Millionen neu verkauften Fahrzeugen im Jahr 2025 bereits drei Jahre im Voraus locker gesprengt wurde. Der Anteil der NEV an den gesamten Pkw-Verkäufen ist 2022 auf knapp 26% und im ersten Quartal 2023 auf 31% hochgeschnellt. In Mega-Städten wie Peking, Schanghai, und Shenzhen dürfte man in diesem Jahr bereits die 50-Prozent-Marke knacken, so dass mehr als die Hälfte der Neuzulassungen auf elektrisch angetriebene Pkw entfallen werden.

Die neuen Absatzstatistiken für das März-Quartal weisen nach einem weiteren explosionsartigen Wachstum mit rund 485.000 verkauften Autos in China BYD nicht nur den Spitzenplatz im Segment der Batterieautos, sondern erstmals auch für den Pkw-Gesamtmarkt in China zu. In einem während der vergangenen drei Monate erneut geschrumpften Markt hat BYD seinen Marktanteil von 9% Ende 2022 auf nunmehr 11,4% ausgeweitet. Damit ist das Unternehmen in der jüngsten Momentaufnahme auch knapp an der Marke VW als seit Jahrzehnten etablierten Marktführer im Reich der Mitte vorbeigezogen. Die Wolfsburger sind mit 10,4% Marktanteil auf Platz zwei abgerutscht – eine ernüchternde Entwicklung, nachdem man 2022 mit rund 15% trotz bereits nachlassender Verkäufe die Nase noch sehr deutlich vorne hatte.

Während die chinesischen Hersteller äußerst selbstbewusst auftreten, macht die deutliche Zunahme der Verkaufszahlen bei Elektroautos, die mit rapide sinkender Nachfrage nach Verbrennerfahrzeugen einhergeht, westlichen Traditionsherstellern zu schaffen. Für Volkswagen lässt sich der Nimbus als langjähriger Marktführer bei Fahrzeugen mit Benzin- und Dieselmotoren auf das Zukunftssegment der Stromer offensichtlich nicht übertragen. In China, wo der Umschwung zu reinen Elektroautos schneller vorankommt als in Europa, hinkt der Wolfsburger Mehrmarkenkonzern bei den E-Fahrzeugen lokalen Herstellern, aber auch Tesla weit hinterher.

Auslieferungen schrumpfen

Stiegen die E-Autoverkäufe in China im ersten Quartal gegen den Markttrend an, verbuchte der VW-Konzern anders als in Europa und in den USA im Vorjahresvergleich einen Rückgang – um gut 25% auf 21.500 Fahrzeuge. Der Verkauf von Verbrennerfahrzeugen konnte dieses Minus nicht kompensieren. Im Gegenteil:  Insgesamt schrumpften die Fahrzeugauslieferungen von VW in China im ersten Quartal um 14,5% auf rund 645.000 Fahrzeuge, während sie weltweit um 7,5% zulegten. 2019, im letzten Jahr vor Beginn der Corona-Pandemie, hatte VW in China in den ersten drei Monaten noch 300.000 Auto mehr verkauft.    

Für die Niedersachsen, die 1985 mit dem VW Santana ihr erstes mit chinesischen Joint-Venture-Partnern gefertigtes Auto in Schanghai vom Band laufen ließen, steht – wie auch für die anderen deutschen Autohersteller – viel auf dem Spiel. Der hinter Toyota größte Autobauer der Welt lieferte auch 2022 mit knapp 3,2 Millionen nicht nur fast 40% seiner Fahrzeuge im weltgrößten Automarkt aus. Auch ein großer Teil des Gewinns erwirtschaftet VW hier. Mit dem schnell schrumpfenden Absatz von Verbrennern sowie mit den Preiskämpfen bei Elektroautos wächst jedoch der Druck, im Geschäft mit den E-Autos schnell in die Erfolgsspur zu finden.

Der Konzern kündigte zur Autoshow Shanghai an, mit weiteren Modellen neue Segmente zu erschließen und bis 2030 sein E-Fahrzeugangebot auf mehr als 30 Modelle auszuweiten. Mit dem präsentierten Elektro-Passat ID.7 wurde ein Vorgeschmack geliefert. Zudem teilte VW während der Automesse mit, rund 1 Mrd. Euro in den Aufbau eines neuen lokalen Entwicklungs-, Innovations- und Beschaffungszentrum für vollvernetzte intelligente E-Fahrzeuge zu investieren und die Entwicklungszeiten neuer Produkte und Technologien schrittweise um rund 30% zu verkürzen. Auch durch Einführung eines markenübergreifenden China-Boards wollen die Wolfsburger Entscheidungen und Entwicklungen in der Region deutlich beschleunigen.

Den Anspruch, in China eine führende Rolle in der Welt der smarten E-Autos spielen, hat VW adressiert. Bis 2030 wird dem weltgrößten Automarkt ein einzigartiges Wachstum von 21 Millionen auf bis zu 30 Millionen Fahrzeuge zugetraut – das Wachstum wäre dreimal so groß wie der deutsche Automarkt. Technologisch müsse man jetzt dagegenhalten, um die Position gegenüber der Konkurrenz aus China zu halten, so Ralf Brandstätter, im VW-Konzernvorstand für das China-Ressort zuständig, Anfang des Jahres. Technologisch und wirtschaftlich dürften Abhängigkeiten eher zu- als abnehmen, würde man die Position auf dem weltgrößten Automarkt absichtlich schwächen. Zugleich weiten die Wolfsburger aber ihr Engagement in anderen Regionen aus: So will der Konzern den Wandel in Richtung E-Mobilität nutzen, um in den USA aus der Nische zu kommen und den Marktanteil bis 2030 von 4 auf 10% zu steigern.

Im chinesischen Markt droht möglicherweise eine entgegengesetzte Dynamik. VW muss gewaltig zulegen, um beim anhaltenden Elektrifizierungstrend nicht in die Nische abzugleiten. Bezeichnenderweise ist es BYD gelungen, die traditionelle Stärke von VW China, mit einer sehr weitgespreizten Palette für so ziemlich jeden Geldbeutel und Fahrzeuganspruch ein passendes Modell im Umlauf zu haben, nun auf der elektrischen Bühne zu replizieren. Dies war eine wesentliche Voraussetzung dafür, um die in den vergangenen zwei Jahren wesentlich beschleunigte Nachfragedynamik nach E-Fahrzeugen in Chinas wichtigsten Ballungsgebieten voll einzufangen.

Der Fahrzeugbauer aus dem südchinesischen Shenzhen dürfte die Kundenreichweite mit dem neuen BYD Seagull über das Billigsegment nochmals steigern und sich in der Absatzstatistik weiter absetzen. Der kompakte Fünftürer schließt eine Lücke zwischen den bereits ab 6.000 Euro zu habenden chinesischen Mini-Gefährten und kleinfamilientauglichen E-Autos mit akzeptabler Sicherheit und Qualität, die bislang erst von 15.000 Euro aufwärts zu haben waren. Bei in Schanghai befragten Messebesuchern stößt man auf das quasi einhellige Urteil, dass sich das neue Modell in seiner Preisklasse insbesondere bei der technischen Ausstattung und den Infotainment-Features sehr deutlich von der Konkurrenz abhebt und eine Menge junge Erstkäufer aus der unteren Mittelschicht anziehen dürfte.

Blick nach oben

BYD will ihren neuen Anspruch als Alleskönner in Sachen Elektromobilität nun mit Luxusklassemodellen der erst kürzlich eingeführten Marke Yangwang unterstreichen. Auf der Messe sorgte insbesondere der wuchtige Luxusgeländewagen U8 für gewaltiges Aufsehen. Erstmals ist ein chinesischer Massenhersteller mit einem Modell in der Preisklasse von über 1 Million Yuan (135.000 Euro) unterwegs. Das findet große Aufmerksamkeit in einem Markt, in dem Luxusansprüche quasi zwangsläufig mit dem Kauf von ausländischen Markenprodukten verbunden werden.

Die BYD-Ingenieure haben sich einige Besonderheiten einfallen lassen, die auf sozialen Medien Begeisterung auslösen. Dazu gehört die Fähigkeit des Autos, sich im Krebsgang auch seitwärts bewegen zu können. Das mag nur begrenzte Anwendung finden, trägt aber sicherlich dazu bei, Interesse bei chinesischen Neureichen anzuziehen und BYD eine Aura von technologischer Avantgarde im Stile von Tesla zu verleihen.  

Spöttischer formuliert, kann man BYD’s Anlauf mit der Marke Yangwang als Versuch bezeichnen, den chinesischen Angeber mit patriotischer Gesinnung zu ködern. Während das Akronym BYD für “Build your Dreams” steht und auch chinesisch als „Biyadi“ nur den englischen Wortlaut wiedergibt, verbindet sich mit Yangwang, wie bei fast alle chinesischen Markenbezeichnungen, eine tatsächliche Bedeutung. In Übersetzung läuft es ungefähr darauf hinaus „den Blick nach oben richten“. Wahrlich kein schlechtes Motto, um BYD’s neue Stellung in Chinas Automarkt widerzuspiegeln.

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