Wachsender Ratingdruck für die Industrieunternehmen
Der Ratingdruck wächst
Ungute Melange: Rezession und steigende Zinsen
Von Annette Becker, Düsseldorf
Noch liegen die Geschäftsberichte für 2023 nicht vor. Fest steht jedoch schon heute, dass sich Zinswende und Rezession in den Bilanzen niederschlagen werden und sich damit die Verschuldungssituation vieler Industrieunternehmen verschlechtert. Einen Vorgeschmack auf die signifikant verschlechterte Ertragslage hat BASF in der vorigen Woche gegeben. Beim weltgrößten Chemiekonzern ist das um Sondereinflüsse bereinigte Ergebnis vor Zinsen und Steuern im abgelaufene Turnus um 45% eingebrochen. Andere (Chemie-)Unternehmen werden folgen.
Neben der ausgeprägten Konjunktur- und damit Nachfrageflaute setzen vor allem gestiegene Energie- und Materialpreise sowie gestiegene Lohnkosten die Gewinne unter Druck. Allein dadurch verschlechtert sich das Verhältnis der Schulden zum operativen Ergebnis, kurz: der Leverage. Der dynamische Verschuldungsgrad gibt an, wie viele Jahre ein Unternehmen benötigen würde, um die Finanzschulden mit dem aktuellen operativen Gewinn zu tilgen. Steigt der Verschuldungsgrad über Gebühr, stehen die Ratingagenturen recht flott auf der Matte.
Finanzierungskosten gestiegen
Eine Herabstufung wiederum verteuert die Refinanzierung. Ein Umstand, der gerade bei hoch verschuldeten Unternehmen im Umfeld gestiegener Zinsen ins Kontor schlägt. Dennoch gibt Tobias Mock, Deutschlandchef von Standard & Poor’s (S&P), ein Stück weit Entwarnung: „Heraufstufungen werden erst einmal die Ausnahme bleiben. Aber wir erwarten nur relativ moderate Herabstufungen.“
Natürlich bezieht sich diese Aussage auf die Unternehmen in ihrer Gesamtheit, im Einzelfall kann es anders aussehen. Insbesondere für Firmen mit schwacher Bilanz und hohem Refinanzierungsbedarf kann es ungemütlich werden. „Für Unternehmen mit schlechtem Rating erwarten wir deutlich mehr Herunterstufungen und eine deutlich höhere Ausfallrate in 2024“, warnt Mock.
Doch unabhängig davon, ob eine Herabstufung droht, sehen sich Unternehmen, die in Zeiten der Niedrigzinsphase milliardenschwere Übernahmen tätigten, nun mit drastisch gestiegenen Finanzierungskosten konfrontiert. Konnte sich Bayer beispielsweise 2020 und 2021 noch recht günstig am Bondmarkt refinanzieren, musste der Konzern zuletzt deutlich tiefer in die Tasche greifen. Für vergleichbare Laufzeiten mussten die Leverkusener 2023 im Euro-Markt im Vergleich zu 2021 Kuponaufschläge zwischen drei und vier Prozentpunkten hinnehmen.
Immobilienbranche gekniffen
Das schlägt sich in den Zinskosten nieder, auch wenn die Finanzschulden von mehr als 40 Mrd. Euro nicht auf einen Schlag zur Refinanzierung anstehen. Damit setzt sich eine Spirale in Gang, die schwer zu stoppen ist. Denn ein immer größerer Teil des Cashflows muss für die Bedienung der Schulden eingesetzt werden. Das engt nicht nur den operativen Handlungsspielraum ein, sondern verhindert am Ende auch die Möglichkeit, Schulden zurückzuführen. Erst im November hatte Moody’s den Ausblick für das Baa2-Rating von Bayer auf „negativ“ gesetzt, weil sich die erwartete Schuldenrückführung verzögert. Bayer strebt nach eigenem Bekunden ein Single-A-Rating an.
Dennoch ist Mock überzeugt, dass Industrieunternehmen mit solider Bilanz aus den hohen Zinsen keine existenzgefährdenden Probleme erwachsen werden; zumal die Finanzierungskosten zuletzt leicht zurückgekommen seien. „Deutschland hat immer noch viele Unternehmen mit Ratings im Investment Grade. Diese Unternehmen haben eine hohe Resilienz und sind in der Lage, mit den Unwägbarkeiten umzugehen.“
Dessen ungeachtet sehen sich manche Branchen besonderem Ratingdruck ausgesetzt, allen voran die Immobilienwirtschaft. „Die Verschuldungshöhe ist für die Real-Estate-Industrie wirklich ein Thema, denn die Leverages sind teilweise gigantisch. Diese Unternehmen haben wegen der hohen Zinsen tatsächlich Probleme“, erläutert Mock. Selbst beim Branchenprimus Vonovia, der mit „BBB+“ und „Baa1“ über ein vergleichsweise starkes Rating im Investment Grade verfügt, belief sich die Nettoverschuldung in Relation zum operativen Ergebnis vor Abschreibungen Ende September 2023 auf das 16-Fache.
Chemie in der Bredouille
Zwar hat sich der Bondmarkt für die großen Immobilienwerte inzwischen wieder geöffnet. Erst kürzlich emittierten die Bochumer einen 400 Mill. Pfund schweren Bond. An dem Umstand, dass die Finanzierungskosten einen großen Teil des Kostenblocks ausmachen, ändert das jedoch nichts. Vor gänzlichen anderen Problemen steht die Chemieindustrie. Dort sind die Ergebnisse im vorigen Jahr förmlich weggebrochen, und Besserung ist so schnell nicht in Sicht. „Deutschland ist in einer Stagnation gefangen“, lautet die nüchterne Analyse der Landesbank LBBW. „In der Chemie ist es schwierig“, räumt auch Mock ein und verweist auf die Überkapazitäten, die der Branche neben den konjunkturellen Schwierigkeiten Probleme bereiten.
Immerhin ist es den Chemieunternehmen im abgelaufenen Turnus gelungen, das Net Working Capital zu senken, so dass sich der Cashflow trotz nachgebender Ergebnisse vielfach positiv entwickelt hat. Das allerdings kann weiteres Ungemach heraufbeschwören. Denn der Abbau des Nettoumlaufvermögens bedeutet in der Regel Vorratsabbau. Damit riskieren die Unternehmen, beim Anspringen der Nachfrage nicht mehr lieferfähig zu sein. „Das ist so, das ist immer eine Abwägungssache“, räumte Maike Schuh, Finanzchefin von Evonik, im Interview ein.
Cashflow im Blick
Event-Risiko: Lieferengpässe
Mit Blick auf die Lagerbestände ergibt sich aus dem Krieg im Nahen Osten aber ein weiteres Risiko. Denn das Rote Meer ist der wichtigste Seeweg für den Handel zwischen Asien und Europa. Werden die Frachter gezwungen, aus Sicherheitsgründen den Umweg um das Kap der Guten Hoffnung zu nehmen, verlängert sich die Fahrtzeit um sieben bis 20 Tage. Lieferengpässe wären die Folge. „Sollte es zu signifikanten Lieferengpässen kommen, würde der negative Bias sicher deutlich steigen. Weil das ein Event-Risiko ist, ist es in den aktuellen Ratings noch nicht berücksichtigt“, warnt Mock.
Der negative Bias errechnet sich aus der Differenz positiver und negativer Ratingausblicke in Relation zur Gesamtheit der in der Branche bewerteten Unternehmen. Der negative Bias gibt ein Gefühl dafür, wo sich Ratingdruck aufbaut, wie Mock erläutert. „Momentan beläuft sich der negative Überhang auf 7,1%. Das ist wenig. In der Coronakrise waren es über 35%“, sagt der Ratingexperte. In der Branchensicht ist das Bild gleichwohl äußerst differenziert. Gemäß den Daten von S&P wartet Automotive mit einem negativen Bias von 36% auf, gefolgt von Telekommunikation und Real Estate, die es auf jeweils 33% bringen. Die Chemieindustrie ist mit 25% dicht auf den Fersen.
Um die hohe Bedeutung einer guten Bonitätsnote wissend, verteidigen manche Unternehmen ihre Ratings mit Klauen und Zähnen. So hat Lanxess beispielsweise schon im November die drastische Kürzung der Dividende angekündigt und treibt zugleich den Verkauf der Geschäftseinheit Polyurethane voran. Damit ließ sich gleichwohl nicht verhindern, dass Moody’s wenige Tage später den Ausblick für das Baa3-Rating auf „negativ“ setzte. Damit ist der MDax-Wert nur noch einen kleinen Schritt vom Verlust des Ratings guter Bonität entfernt.
Wenn der Abstieg naht
Im Dax-Universum steht mit Siemens Energy nur ein Industrieunternehmen an der Schwelle zum Non-Investment Grade. Hier dürfte der Ratingerhalt nicht zuletzt vom Grad der staatlichen Unterstützung abhängen. Bei den Münchnern zeigt sich auch, wie schnell der Ratingverfall vonstattengehen kann. Vergab S&P beim Start in die Unabhängigkeit 2020 zunächst ein „BBB“ mit stabilem Ausblick, wurde das Rating im März 2022 zunächst mit einem negativen Ausblick versehen. Im Juli 2023 folgte die Herabstufung auf „BBB−“. Kein halbes Jahr später wurde auch diese Bonitätseinstufung mit negativem Ausblick versehen.
Geringe Risikoaufschläge
Eine gute Nachricht gibt es allerdings in diesen schwierigen Zeiten: Seit der Zinswende sind die Investoren begierig, sich hohe Kupons zu sichern. „Investitionen in Unternehmen aus dem Investment-Grade-Universum bringen wieder richtig Rendite. Daher sind die Risikoaufschläge zurzeit auch relativ gering“, beschreibt Mock die Gemütslage der Bondinvestoren.