Im BlickfeldBritische Pubs

Wenn das zweite Wohnzimmer schließt

In Großbritannien hat sich das Pub-Sterben in den vergangenen Monaten beschleunigt. Die Kundschaft kann sich Gaststättenbesuche nicht mehr so oft leisten. Doch es ist nicht nur das Geld: Auch veränderte Lebensgewohnheiten machen den "Publicans" zu schaffen.

Wenn das zweite Wohnzimmer schließt

Wenn das zweite Wohnzimmer schließt

Pubsterben in Großbritannien beschleunigt sich – Hohe Teuerungsrate, Schulden und veränderte Lebensgewohnheiten belasten

Von Andreas Hippin, London

Wer an manchen Pubs im Zentrum Londons vorbeikommt, könnte den Eindruck bekommen, die Branche habe keine Probleme. Zahllose Menschen drängen sich auf der Straße, ein Getränk in der Hand, und verbreiten das Gefühl bierseliger Gemütlichkeit. Die Branche insgesamt erfreut sich steigender Umsätze. Im Juli stieg der vergleichbare Umsatz von Pubs trotz der extrem feuchten Witterung dem Coffer CGA Business Tracker zufolge im Vorjahresvergleich um 7,0%. Im Juni hatte er bereits um 10,8% höher gelegen als ein Jahr zuvor. Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Eine Pleitewelle kommt in Fahrt. "Wir beobachten derzeit, dass Banken bei Non-Performing Assets rigoros durchgreifen", sagte Molly Rushworth, Research & Insights Manager bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Bailey, der Börsen-Zeitung. "Die Kulanz, die man unter den nie dagewesenen Bedingungen der Pandemie erlebt hat, geht dem Ende zu. Die Banken müssen sich nun auf Firmen mit echtem Wachstumspotenzial fokussieren."

Reichlich Zombiefirmen

Viele Pubbetreiber schoben bereits vor den Lockdowns einen großen Schuldenberg vor sich her. Oft handelt es sich um Zombiefirmen, die nur in einem Niedrigzinsumfeld fortbestehen können. Die stark gestiegenen Zinsen machen sich spätestens dann bemerkbar, wenn Kredite oder Anleihen refinanziert werden müssen. Die Bank of England erhöhte den Leitzins im August um weitere 25 Basispunkte auf 5,25% – der 14. Zinsschritt in Folge. Refinanzierungen seien immer noch möglich, sagte Rushworth. Physische Assets wie Immobilien, Inventar und Lagerbestände taugten am besten als Sicherheiten. Doch je älter die Anlagen und je verderblicher die Lagerbestände, desto schwieriger werde es. Und je nach den Eigentumsverhältnissen könnten Immobilien vielleicht nicht beliehen werden. Im zweiten Quartal gaben laut einer Erhebung von Price Bailey 223 Wirte auf, im Auftaktquartal waren es 200. Alles in allem schlossen seit dem dritten Quartal des Vorjahres 729 Pubbetreiber die Pforten. Das ist ein Anstieg von 80% zum Vergleichszeitraum 2021/22. "Die Pubschließungen werden im laufenden Halbjahr vermutlich noch zunehmen", sagte Rushworth. "Denn jeglicher Gewinn aus zusätzlichem Umsatz wird aufgefressen, wenn die Zinsen die Kosten für den Schuldendienst weiter nach oben treiben und die Input-Kosten auf erhöhtem Niveau bleiben." Seit der Lüftung des noch von der glücklosen Premierministerin Liz Truss durchgepeitschten Energiepreisdeckels machen den Wirten zudem höhere Energiekosten zu schaffen. Pubbetreiber hätten auch die Möglichkeit, Vermögensgegenstände aus ihrem Privatbesitz zu beleihen. Es sei allerdings verständlich, wenn sie so ein Risiko nicht eingehen wollten. Dann müssten sie sich allerdings gegebenenfalls kritischen Fragen von Kreditgebern stellen, die nicht einsehen, warum sie es dann übernehmen sollen.

Auch die rasant steigenden Lebenshaltungskosten tragen einen großen Teil zur Krise der Branche bei. Denn auch wenn sich der Preisauftrieb abschwächt, bedeutet das ja nicht, dass nun irgendetwas billiger würde. Wie einer Umfrage der Campaign for Real Ale (CAMRA) ergab, hält nur noch einer von zehn Briten ein Bier im Pub für erschwinglich. Dabei gab es große regionale Unterschiede. In Schottland waren es 6%, in London, wo die höchsten Preise abgerufen werden, immerhin 15%. „Ein Bier im Pub mit Freunden gehört zu den einfachen Freuden des Lebens und ist zudem ein einzigartiger Teil unseres Kulturerbes“, sagte CAMRA-Chairman Nik Antona. „Es ist niederschmetternd, dass nur so wenige von uns das Gefühl haben, sich das leisten zu können.“ Im Jahr vor der Pandemie kostet ein Pint (568 ml) den Daten des Verbands BBPA zufolge im Schnitt noch 3,52 Pfund, im vergangenen Jahr bereits 4,03 Pfund. Fast ein Drittel davon geht an den Staat – in Form von Mehrwert- und Alkoholsteuer. In London, wo das Publikum als weniger preissensitiv gilt, sind Preise zwischen sieben und acht Pfund keine Seltenheit. Mit dem wohl teuersten Bier im gesamten Vereinigten Königreich machte im vergangenen Jahr der Pub The Craft Beer Co aus Brixton Schlagzeilen. Das "Reforged 20th Anniversary Ale", ein Produkt der Minibrauerei Alesmith aus dem kalifornischen San Diego, kostete 105 Pfund pro 750-ml-Flasche, also 80,15 Pfund pro Pint.

Tatsächlich sinkt die Zahl der Pubs seit vielen Jahren. Anfang des Jahrhunderts waren es noch 60.800, Ende vergangenen Jahres nach der Zählung des BBPA nur noch 45.800. Dafür gibt es noch viele andere Gründe. Oft ist die Stammkundschaft des traditionellen „boozer“ an der Ecke weggezogen oder einfach zu alt geworden. Jüngere Menschen sind gesundheitsbewusster. Für sie hat das Trinken weder Volkssportcharakter, noch ist es Teil ihrer Alltagskultur. Der Pub ist für sie nicht mehr das zweite Wohnzimmer. Viele Zuwanderer muslimischen Glaubens, die in Städten wie Bradford das Straßenbild bestimmen, trinken ohnehin keinen Alkohol und treffen sich lieber in Chai-Cafés oder Shisha-Bars mit ihren Freunden und Bekannten. Als die schottische Brauerei Brewdog im Januar 2020 einen Pub im Londoner East End eröffnete, in dem nur alkoholfreie Biersorten ausgeschenkt wurden, sorgte das für Aufsehen. Doch der Ansatz setzte sich nicht durch. Als das Lokal in der Old Street nach den Lockdowns wieder öffnete, gab es dort auch Alkohol. Mittlerweile wurde es endgültig geschlossen.

Pendler arbeiten von zu Hause

In vielen Großstädten macht das Arbeiten aus dem Homeoffice Wirten in der Umgebung von Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen schwer zu schaffen. Die Pendler, die mit Kollegen noch schnell ein Bier trinken oder etwas essen gehen, kommen nur noch für ein paar Tage die Woche ins Büro. Montags und Freitags herrscht in den Geschäftsvierteln gähnende Leere. Die großen Ketten könnten die Gewinner der Branchenkrise sein. „Der annualisierte Umsatz von Wetherspoons beläuft sich derzeit auf 2 Mrd. Pfund und ist damit so hoch wie nie zuvor“, sagt Tim Martin, der Chairman des börsennotierten Pubbetreibers, der mit niedrigen Preisen punktet. Der Erlös liege um rund 100 Mill. Pfund über dem im Jahr vor der Pandemie erreichten Wert. Der Gewinn steige und die Zahl der Mitarbeiter bewege sich auf Rekordniveau. Brewdog will die Zahl ihrer Lokale annähernd verdreifachen. Bis 2030 sollen es 300 sein. Im Londoner Bahnhof Waterloo eröffnete bereits ein Pub der schottischen Brauerei, der sich über zwei Stockwerke erstreckt und mit einer Rutsche aufwartet. Ein weiterer soll am Flughafen Gatwick folgen – mit Hilfe des Cateringunternehmens SSP. Dass es immer noch eine Menge Lokale gibt, die weder über ein überragendes Getränke- und Speisenangebot verfügen noch in ihrem lokalen Umfeld fest verankert sind, ist vor diesem Hintergrund fast schon ein kleines Wunder.

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