Im BlickfeldGroßbritannien

Wenn der Staatsverbrauch explodiert

In Großbritannien zeigt sich, was so alles schiefgehen kann, wenn man auf den Staat als Wachstumstreiber setzt. Schatzkanzlerin Rachel Reeves steht vor der Wahl zwischen Steuererhöhungen und Leistungskürzungen.

Wenn der Staatsverbrauch explodiert

Wenn der Staatsverbrauch explodiert

In Großbritannien zeigt sich, was so alles schiefgehen kann, wenn man auf den Staat als Wachstumstreiber setzt.

Von Andreas Hippin, London

Die britische Schatzkanzlerin Rachel Reeves hat ein Problem. Der Preisauftrieb nimmt zu. Und Wachstum lässt sich nicht herbeireden. Der Fokus auf den öffentlichen Sektor rächt sich. Dort sind unter der seit Juli regierenden Labour-Regierung die Löhne stärker gestiegen als in der Privatwirtschaft. Die Produktivität wurde dadurch jedoch nicht verbessert.

Für das im April beginnende neue Fiskaljahr schlägt die Regierung für den öffentlichen Dienst eine Lohnerhöhung von 2,8% vor. Der Vorschlag gilt auch für die Mitarbeiter des maroden öffentlichen Gesundheitswesens NHS (National Health Service). Damit dürften die Flitterwochen für Labour vorbei sein. Denn die Inflation stieg im Dezember auf 3%. Die Volkswirte der Bank of England gehen davon aus, dass sie in diesem Jahr 3,7% erreichen wird.

Ende der Flitterwochen

Für die zunächst gehätschelten Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes kommt der Vorschlag der Regierung deshalb einer Lohnkürzung gleich. Die Lehrergewerkschaft NEU (National Education Union) will ihre Mitarbeiter diesen Monat dazu befragen, ob Arbeitskampfmaßnahmen eingeleitet werden sollen. Das Royal College of Nursing wertete das Angebot als „zutiefst verletzend“.

Ähnliche Töne kommen auch von anderen Organisationen. Die größte britische Gewerkschaft Unison sprach von einer „bitteren Pille“. Die ständische Vertretung der Ärzte BMA (British Medical Association) verlautbarte, es bestehe ein „sehr reales Risiko“, dass es zu weiteren Streiks komme, wenn die „Erosion“ der Einkommen nicht angegangen werde.

Inflationstreiber öffentlicher Dienst

Der expandierende öffentliche Sektor droht zum Inflationstreiber zu werden. Die Denkfabrik Resolution Foundation geht davon aus, dass im laufenden Jahr sowohl der Staatsverbrauch als auch die Investitionen der öffentlichen Hand steigen und für den Rest des Jahrzehnts über dem derzeitigen Niveau bleiben werden.

Nach ihrer Schätzung wird der Anteil des Staatsverbrauchs am Konsum, der 2018/19 bei lediglich 22% gelegen hatte, bis 2028/29 auf 26% zulegen. Wenn man die Pandemiejahre einmal unberücksichtigt lässt, wurden solche Werte zuletzt während der auf die Finanzkrise folgenden Rezession erreicht.

Wendepunkt bei Investitionen

Auch bei den öffentlichen Investitionen stellt 2025 aus Sicht des Thinktanks einen Wendepunkt dar. Sie hatten 2016/17 lediglich einen Anteil von 14% an den Investitionen insgesamt. Bis 2026/27 soll er auf 20% steigen. Die Planung der Konservativen hätte dagegen für den Rest der Dekade einen Rückgang vorgesehen.

Die staatlichen Anlageinvestitionen werden von 77,7 Mrd. Pfund im laufenden Fiskaljahr auf 79,4 Mrd. im kommenden steigen, um 2026/27 dann 83,4 Mrd. zu erreichen. Die zugrunde liegenden Annahmen sind leicht zu verstehen. Eine bessere öffentliche Infrastruktur erhöht die Produktivität der Privatwirtschaft, etwa wenn Unternehmen, Mitarbeiter und Kunden durch neue Schienenwege und Straßen besser miteinander verbunden werden.

Crowding-out

Zum anderen führen höhere Anlageinvestitionen in Bildung, Gesundheit und andere öffentliche Dienstleistungen zu einem größeren Angebot. Das wirkt sich direkt auf das Bruttoinlandsprodukt aus. Zudem entsteht dadurch im Idealfall eine besser ausgebildete und gesündere Erwerbsbevölkerung.

Die offene Frage ist, ob diese Investitionen zu einem „Crowding-out“ privater Investitionen führen werden. Die unabhängigen Haushaltshüter des Office for Budget Responsibility (OBR) gehen offenbar davon aus. Sie rechnen nicht damit, dass Reeves in der laufenden Legislaturperiode nennenswertes Wirtschaftswachstum hervorbringen wird.

Die Rückkehr von PFI

Verfallende Schulen und Krankenhäuser, schlaglochübersäte Straßen und die historische Schieneninfrastruktur lassen sich nicht für einen zweistelligen Milliardenbetrag im Jahr sanieren. Reeves spielt deshalb Medienberichten zufolge mit dem Gedanken, das Modell Private Finance Initiative (PFI) wiederzubeleben. NHS-Manager diskutieren darüber schon seit längerem.

PFI ist zwar ein Kind der konservativen Regierung von John Major. Doch ihr goldenes Zeitalter erlebte die Konstruktion erst unter den darauffolgenden Labour-Regierungen von Tony Blair und Gordon Brown. Sie eröffnete die Hoffnung, staatliche Dienstleistungen in Zeiten knapper Kassen zeitsparender und kostengünstiger bereitstellen zu können. Zudem sollten damit neue Schulden vermieden und das Risiko zumindest teilweise an die privaten Partner übertragen werden.

Demystifizierung empfohlen

Für einen PFI-Deal wird eine eigene Rechtspersönlichkeit aufgesetzt. Sie nimmt für den Bau eines neuen Assets – etwa einer Schule, Straße oder eines Krankenhauses – Kredite auf. Der Steuerzahler leistet über die in der Regel auf 25 bis 30 Jahre angelegte Vertragslaufzeit hinweg Zahlungen, aus denen Zinsen, Tilgung der Kredite und die Kosten für Erhalt und Wartung sowie andere Dienstleistungen bestritten werden.

Nach dem spektakulären Kollaps des Baukonzerns Carillion hatte der konservative Schatzkanzler Philip Hammond 2018 angekündigt, keine weiteren PFI-Verträge zu unterzeichnen. Rachel Tyler, Government & Health Industries Leader bei PwC UK, empfahl jüngst eine „Demystifizierung“ von PFI. Man solle lieber von erfolgreichen Beispielen für die Weiterentwicklung des Modells lernen. Nachdem Labour PFI über Jahre hinweg verteufelt hat, dürfte es Reeves schwerfallen, es den eigenen Anhängern zu verkaufen.

Wesentliche Risikoquelle

Das OBR hält PFI für eine wesentliche Risikoquelle. Dem Rechnungshof NAO (National Audit Office) zufolge ist der privat finanzierte Bau einer Gruppe von Schulen um 40% teurer als eine Finanzierung über öffentliche Neuverschuldung. Einer Studie des Schatzamtes aus dem Jahr 2011 zufolge kostet ein privat finanziertes Krankenhaus sogar 70% mehr.

Doch zurück zum „Big Picture“: Die Veränderungen beim Staatsverbrauch und den öffentlichen Investitionen werden die Zahl der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes weiter nach oben treiben. Zwischen 2015 und 2024 nahm die Zahl der Mitarbeiter des Civil Service bereits von 392.000 auf 513.000 zu. Der Anteil des öffentlichen Dienstes an der Beschäftigung insgesamt dürfte der Resolution Foundation zufolge von derzeit 17,6% auf 18,3% im Jahr 2029/30 steigen. Das bewegt sich ganz in der Nähe der 18,8%, die unter Gordon Brown 2011/12 erreicht wurden. Hunt hätte dagegen gerne eine Reduzierung auf 16,9% gesehen.

Mehr Staatsdiener

Die Zusammensetzung des öffentlichen Dienstes hat sich seit der Jahrtausendwende stark verändert. Während der Anteil der Mitarbeiter der Lokalverwaltungen von 54% auf 34% zurückging, stieg die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen und der Sozialarbeit von 29% auf 37%. Das dürfte sich fortsetzen.

Entscheidend dürfte sein, ob die steigende Zahl immer höher bezahlter Mitarbeiter zu einer Verbesserung des Dienstleistungsangebots der öffentlichen Hand führen wird. Das ist mit Blick auf die bisherigen Erfahrungen mit dem NHS keineswegs gewährleistet.

Wachsweiche Schuldenregeln

Reeves hat den großen Vorteil, dass es in Großbritannien, anders als in Deutschland, keine gesetzlich verankerte Schuldenbremse gibt. Die „ehernen“ Fiskalregeln, die sie gerne als „nicht verhandelbar“ darstellt, sind in Wirklichkeit wachsweich.

Der Wirtschaftsausschuss des House of Lords forderte einen Monat vor Veröffentlichung ihres Haushalts im Oktober schärfere Schuldenregeln. Statt eines sich ständig verschiebenden Ziels zur Schuldenreduzierung bedürfe es eines Rahmens, der zeige, um wie viel niedriger die Verschuldung gemessen am BIP zu einem bestimmten Zeitpunkt in fünf Jahren sein sollte, wenn keine außerordentlichen Ereignisse dazwischenkommen. Er sollte auch glaubwürdige Steuer- und Ausgabenpläne für die fünf Jahre beinhalten. Davon ist das Land weiter entfernt denn je.

Am Ende bleibt es dem Bondmarkt überlassen, Labour zu disziplinieren. Denn Premierminister Keir Starmers vollmundige Hilfszusagen für die Ukraine und die von ihm angekündigte Steigerung der Militärausgaben dürften sich ohne eine höhere Neuverschuldung kaum stemmen lassen. Es sei denn, man kürzt anderswo. Im öffentlichen Dienst etwa oder an den Sozialleistungen.

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