Notiert inTokio

Wenn Kunden zum Mobbing greifen

Immer mehr Kunden in Japan nutzen die nach Perfektion strebende Servicekultur für psychische Attacken auf das Personal. Nun gibt es den ersten Versuch, die Beschäftigten davor zu schützen.

Wenn Kunden zum Mobbing greifen

Notiert in Tokio

Wenn Kunden zum Mobbing greifen

Von Martin Fritz

In deutschen Gefilden gähnt man beim Bonmot „Der Kunde ist König“. Aber die Japaner sagen „Der Kunde ist Gott“ und praktizieren das auch: der Verkäufer im Geschäft, der den eintretenden Kunden mit „Willkommen“ (irasshaimase) begrüßt. Der Zusteller, der das Paket im Laufschritt zur Haustür trägt. Der Taxifahrer, der die hintere Fahrgasttür per Knopfdruck öffnet. Die Putzfrauen der Shinkansen-Superschnellzüge, die sich nach getaner Arbeit auf dem Bahnsteig vor den Reisenden verbeugen.

„Customer Harassment“

Doch diese Verwöhnung hat eine negative Kehrseite: Manche Kunden benehmen sich extrem pingelig und nerven mit ihren Beschwerden so sehr, dass dafür ein eigenes Wort entstanden ist: „Kasuhara“, eine Abkürzung für den englischen Ausdruck „customer harassment“. Es bedeutet: Die Kunden nutzen ihre überlegene Position aus, um Servicemitarbeiter verbal zu missbrauchen oder falsche Anschuldigungen gegen sie zu erheben. Teilweise, um Dampf abzulassen, teilweise, um sich finanzielle Vorteile zu verschaffen, zum Beispiel durch kostenlose Ersatzprodukte oder andere Gratifikationen.

Eine aktuelle Gewerkschaftsumfrage ergab, dass fast jeder zweite Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor, der 75% von Japans Erwerbstätigen beschäftigt, schon einmal mit ausrastenden Kunden zu tun hatte. Die Bandbreite reicht von Beschimpfungen und überzogenen Forderungen bis hin zu physischer Gewalt und Doxing, der Bekanntgabe privater Informationen über Soziale Medien. Opfer von Kasuhara entwickelten psychische Erkrankungen, einige davon begingen durch den Psychostress gar Selbstmord.

Beunruhigende Beispiele

Zwei typische Fälle aus einem Bericht der Zeitung „Asahi“: Der Kunde eines Supermarktes behauptete, sein gekaufter Tofu sei schon verdorben gewesen. Als ein Mitarbeiter den Kunden besuchte (ja, das ist japanischer Service pur!), stellte sich heraus, dass der Tofu schon vor zwei Wochen gekauft wurde. Trotzdem verlangte der Kunde, dass der Mitarbeiter sich auf dem Boden liegend entschuldigen sollte.

Reaktion auf soziales Problem

Bei einem anderen Fall berichtete eine städtische Beamtin, ein Bürger hätte sie in einem Wutausbruch aufgefordert, tot umzufallen. „Die Leute glauben offenbar, dass sie im Umgang mit Beamten sagen können, was sie wollen, weil sie Steuern zahlen“, sagte die Beamtin der Zeitung. „Ich wünschte, sie könnten verstehen, dass wir Angestellten auch Menschen sind.“ Die Zunahme solcher Attacken hat nun die Stadtregierung von Tokio unter dem Druck von Gewerkschaften und Branchenvertretern dazu veranlasst, Japans erste Verordnung zum Schutz von Servicebeschäftigten einzuführen. Die Verordnung, die im April 2025 in Kraft tritt, sieht jedoch keine Strafen vor. Vielmehr soll sie ein wachsendes soziales Problem bewusst machen. Sie erkennt zwar den Wert von legitimem Kundenfeedback an, aber „die Gesellschaft als Ganzes sollte versuchen, Missbrauch zu verhindern“. Nun will auch das Arbeitsministerium gesetzlich gegen „Kasuhara“ vorgehen.

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