Wenn Politik am liebsten auf sich selbst hört
Warum sich für eine Sache aufreiben, wenn den Auftraggeber das Ergebnis der Mühen nicht interessiert? Diese Frage hat Volker Wieland für sich persönlich beantwortet, als er seinen Rückzug per Ende April aus dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) ankündigte. Der Rücktritt knapp ein Jahr vor Ende seiner Amtszeit im Rat der „Fünf Weisen“, die schon seit dem Ausscheiden des seinerzeitigen Vorsitzenden Lars Feld vor einem Jahr nur noch vier Weise sind und jetzt auf drei schrumpfen, steht symptomatisch für den Niedergang ökonomischer Politikberatung in diesem Land.
Hatte schon die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel selten mehr als ein müdes Lächeln für die Wirtschaftsweisen übrig, wenn sie einmal jährlich das oft über 500 Seiten starke Jahresgutachten vorstellten und überreichten, so hat Bundeskanzler Olaf Scholz erst jüngst wissenschaftlichen Ratschlägen von Ökonomen eine harsche Abfuhr erteilt.
Im Zusammenhang mit Berechnungen von Wirtschaftswissenschaftlern, wonach ein Energieembargo gegen Russland wirtschaftlich machbar sei, warf er den Ökonomen praxisferne mathematische Modelle vor und kritisierte ihre Analysen als „unverantwortlich“. Dabei kamen diese sehr differenzierten und aufschlussreichen Studien immerhin von namhaften Wirtschaftsforschern, darunter auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Der Kanzler, so scheint es, hört am liebsten auf sich selbst. Dass wissenschaftliche Politikberatung bitteschön seine politischen Kreise nicht stören möge, hat Olaf Scholz schon als Finanzminister und Wahlkämpfer erkennen lassen. Als der SVR und die wissenschaftlichen Beiräte beim Wirtschaftsministerium wie auch beim Finanzministerium die Rentenpolitik des SPD-Finanzministers kritisierten und als nicht nachhaltig finanziert bewerteten, behauptete Scholz schlichtweg, die Ökonomen hätten sich verrechnet. Und weil Scholz der traditionell eher ordnungspolitisch und mehrheitlich marktliberal ausgerichtete Rat nicht passte, blockierte er die von der CDU gewünschte Wiederbestellung des damaligen Vorsitzenden und liberalen Freiburger Ökonomen Lars Feld durch die Bundesregierung.
Politisierung des SVR
Scholz forcierte damit eine Politisierung der Fünf Weisen, die schon mit der Berufung des gewerkschaftsnahen und wissenschaftlich wenig ausgewiesenen Ökonomen Achim Truger sichtbar geworden war. Wenn demnächst die beiden Vakanzen mit je einem eher konservativen und einem eher linken Wirtschaftsweisen geschlossen werden, gibt es künftig eine 3-zu-2-Mehrheit für links. Dass die Arbeitsweise des SVR reformbedürftig ist und das Mammutwerk des Jahresgutachtens nicht nur die Bundesregierung als Adressaten überfordert, sondern auch von der interessierten Öffentlichkeit bestenfalls in Auszügen wahrgenommen und verarbeitet werden kann, ist zweifelsohne der Fall und auch im Rat selbst erkannt. Doch die Antwort darauf darf nicht sein, das Expertengremium am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Letzteres droht, nachdem im Frühjahr auch schon der Generalsekretär des SVR, Wolf Reuter, den Rat verlassen hat und als Chefvolkswirt zu Christian Lindner ins Bundesfinanzministerium gewechselt ist. Dort trifft er auf seinen einstigen Chef und Förderer Lars Feld, den Lindner schon kurz zuvor als persönlichen Chefberater engagiert hat.
So beruhigend die Expertise eines Mini-Weisenrats beim Finanzminister auch sein mag – die individuelle Beratung kann die Arbeit eines Expertengremiums wie des SVR nicht ersetzen. Häufig haben sich seit Gründung des Rats im Jahr 1963 die Fünf Weisen als Vordenker erwiesen. Die Orientierung der Lohnpolitik an der Produktivitätsentwicklung gehört ebenso dazu wie das Konzept des konjunkturneutralen Haushalts, der demografische Faktor in der Rentenversicherung, die CO2-Besteuerung als marktverträgliche Klimapolitik oder die Schuldenbremse.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Expertenrat gelegentlich im Widerspruch zu politischen Interessen oder ideologischen Überzeugungen steht. Politik darf – obwohl vom Wähler legitimiert – wissenschaftliche Erkenntnisse aber nicht einfach missachten, selbst wenn dies, wie das Beispiel Donald Trump in den USA gezeigt hat, zeitweilig politisch mehrheitsfähig ist. Umgekehrt muss wissenschaftliche Politikberatung bestimmte Voraussetzungen erfüllen, nämlich Distanz, Pluralität, Transparenz und Öffentlichkeit. Distanz ist durch die gesetzlich verankerte Unabhängigkeit der Wirtschaftsweisen gesichert, Pluralität durch die Mitwirkung nicht allein der Regierung, sondern auch des Gremiums selbst sowie der Sozialpartner am Berufungsverfahren. Transparenz und Öffentlichkeit wurden vor allem in den zurückliegenden Jahren deutlich verbessert, indem das Jahresgutachten inhaltlich entzerrt und durch Konjunkturprognosen, Sondergutachten, Stellungnahmen und Arbeitspapiere ergänzt wird.
Enormer Beratungsbedarf
Seine wissenschaftlichen Arbeiten publiziert der SVR nicht nur auf der Homepage, sondern regelmäßig in Fachzeitschriften und in Tagesmedien. Dass Talkshows und Social-Media-Kanäle nicht so offensiv bespielt werden wie von anderen Institutionen der Politikberatung oder Wirtschaftsforschern, ist eher von Vorteil. Denn wie schnell öffentliche Kommunikation ins Negative umschlagen kann, war bei der wissenschaftlichen Politikberatung in der Corona-Pandemie zu erleben, wo die anfängliche Wertschätzung für den Virologen Christian Drosten mit der Dauer der Pandemie teils in Schmähungen und gar Drohungen umschlug. Ähnliche Erfahrungen haben Klimaforscher gemacht. Angesichts der gewaltigen ökonomischen Herausforderungen durch Pandemie, Klimatransformation und Ukraine-Kriegsfolgen wäre die Bundesregierung bei den Nachbesetzungen gut beraten, der weiteren Politisierung des Sachverständigenrats zu widerstehen und sich die Fünf Weisen als kompetente und kritische Sparringspartner zu erhalten.
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