Notiert in Brüssel

Wie ein guter Familienvater

Wohnungssuche in Brüssel hat früher richtig Spaß gemacht. Denn man musste keine Zeitungen oder Websites durchstöbern, sondern nur auf der Straße die Augen offen haben. Und auch wenn sich vieles verändert hat: Auch heute ist Wohnungssuche in Brüssel immer noch deutlich angenehmer als in Rhein-Main.

Wie ein guter Familienvater

Notiert in Brüssel

Wie ein guter Familienvater

Von Detlef Fechtner

Vor 30 Jahren hat es richtig Vergnügen bereitet, in Brüssel eine Wohnung zu suchen. Da musste man weder Zeitungen nach Wohnungsanzeigen durchstöbern noch irgendwelche Internetseiten. Vielmehr parkte man einfach in dem Quartier, in das man gerne ziehen wollte, schlenderte durch die Straßen und hielt nach „A louer/te huur“-Schildern in Fenstern Ausschau.

Für meine erste Brüsseler Wohnung habe ich auf diese Weise einst binnen anderthalb Stunden Termine für die Besichtigung von vier Wohnungen ausgemacht. Ich habe das seinerzeit in Frankfurt nicht erzählt – um nicht die unnötig neidisch zu machen, die damals jeden Freitagnachmittag Telefonzellen rund ums Eschersheimer Tor blockierten, um sich sofort nach Auslieferung der Freitags-Rundschau als eine der Ersten auf Wohnungsangebote zu melden und dann samstags mit 40 anderen Bewerbern durch völlig überteuerte Souterrain-Studios in Preungesheim oder Sossenheim zu streifen.

Fast noch angenehmer als die Anbahnung waren in Brüssel in den Neunzigern die Bewerbungsgespräche. Zur völligen Überraschung wurde nämlich nicht ich darum gebeten, meine solide finanzielle Lage zu erläutern. Vielmehr starteten die Vermieter umgehend die Gespräche mit der Darstellung ihrer finanziellen Puffer, die es ihnen ermöglichen würden, nötige Reparaturen an der zur Vermietung stehenden Wohnung durchzuführen. Hand aufs Herz: Als ein Vermieter mir empfahl, ich könne mich gerne bei den Nachbarn über seine finanzielle Makellosigkeit erkundigen, war ich damals fest überzeugt, mich in einer Sendung mit versteckter Kamera zu befinden. Schon bald, so war ich überzeugt, werde sich halb Belgien über die Naivität des Deutschen schieflachen, der wirklich dachte, das alles sei echt. Allein: Es war echt.

Im Vertrag wurde mir dann aber etwas Besonderes abgefordert. Es reichte nicht, den „bail résidentiel“ einfach mit Ort und Datum zu unterzeichnen. Vielmehr wurde ich gebeten, schriftlich zu versprechen, dass ich mit der Wohnung umgehe „comme un bon père de famille“ – wie ein guter Familienvater.

Ich habe vor wenigen Tagen wieder einmal einen Mietvertrag in Brüssel unterzeichnet. Den „bon père de famille“ gibt es nicht mehr. Die Formulierung wurde 2014 im französischen Recht (und damit in der belgischen Rechtspraxis, die sich daran anlehnt) aufgegeben. Zugegebenermaßen ist die Formulierung ja auch ziemlich aus der Zeit gefallen. Manches andere hat sich auch geändert. Aber das Wichtigste: In Brüssel gibt es auch heute noch jede Menge freier Apartments, die über die einschlägigen Websites angeboten werden. Und zwar nicht nur außenliegend in Nederover-Hembeek oder in Erps Kwerps, sondern auch in Uccle, Ixelles und Woluwe – also im Nordend, in Bornheim und in Sachsenhausen von Brüssel. Und die Miete dieser Wohnungen liegt sogar unter Frankfurt. Aber das erzählen Sie bitte nicht weiter. Denn Sie wollen ja niemanden unnötig neidisch machen.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.